Wer etwas verändern will, gründet keine Vereine mehr, stattdessen entstehen immer mehr junge Kollektive
Von Amelie Völker und Wolfgang Westermeier
Es waren tolle Partys. Partys ohne kommerziellen Hintergrund, Partys wie ein Festival mit Kunstausstellungen, Lichtprojektionen und elektronischer Musik. Daniel Hahn, der heute mit dem Bahnwärter Thiel für ähnlichen Zauber sorgt, schwärmt immer noch von dieser Reihe, obwohl sie bereits vor fünf Jahren das letzte Mal stattgefunden hat. Organisiert wurden diese Partys von einem Freundeskreis, genannt haben sie sich „Die Träumer“.
Die Träumer, wie passend. Denn heute gibt es keinen Freundeskreis mehr. Natürlich schon, aber wenn Partys organisiert werden, nennen sie sich Kollektiv. Alle paar Wochen, so scheint es zu sein, kommt ein neues dazu. Sie veranstalten Partys, organisieren Kunstausstellungen, drehen Filme, inszenieren Theaterstücke oder gehen gemeinsam demonstrieren. Seinen vorläufigen Höhepunkt hat der Hype vergangenen Dezember erreicht: Zu dem music is festival wurde das „Kollektiv der Kollektive“ geladen, um – nun ja – über das Wirken von Kollektiven zu sprechen.
Was hat es mit der Begeisterung für Kollektive auf sich? Warum opfern junge Menschen Zeit, Geld und Nerven, um sich in basisdemokratischen Prozessen über die gemeinsame Vision einig zu werden? „Menschen können nicht alles alleine schaffen, egal, um was es geht“, sagt Julia Bomsdorf. Sie ist die Gründerin des Wut-Kollektivs, das sich dem Ziel verschrieben hat, die elektronische Musikszene auch für Frauen und nicht-binär identifizierte Personen zugänglicher zu machen. „Unterstützung von anderen Stellen gibt es kaum, oder erst ab einer gewissen Stufe“, sagt Julia.
Ein Problem, das viele plagt. Junge Menschen fühlen sich von der Politik nicht ausreichend verstanden. Auch die Diversität der Club-Kultur lässt zu wünschen übrig. Als Solokünstler tut man sich schwer: zu wenige Ateliers, Ausstellungsräume, Veranstaltungsorte. Und: München ist teuer. Im Kollektiv zu agieren, heißt auch, Kosten teilen zu können. So sieht das auch Florian Kirchmeier, DJ aus dem Münchner DJ-Kollektiv Sustain: „Die komplette Last, auch finanziell, auf mehreren Schultern zu verteilen, spielt bei jungen Crews bestimmt auch eine Rolle.“
Dass er „Crew“ sagt zu seinem Kollektiv, mag Zufall sein. Aber es gab eine Zeit, da gab es in München Crews. Oder Aktionsgruppen. Oder Organisatoren, die sich einfach nach dem Namen ihrer Veranstaltung nannten wie die Konzertreihe „This City Has No Seasons“. Wer früher etwas verändern wollte, gründete einen Verein, etwa die Mitglieder von Kajumi oder Innen.aussen.raum etwa. Das macht heute kein junger Mensch mehr. Heute gründet er Kollektive. Wie alles, kommt das moderne Kollektiv übrigens aus Berlin. Dort haben sich schon früh DJs zusammengeschlossen, um große Partys zu feiern. Ein Vorreiter war beispielsweise das 1999 gegründete „Kollektiv Turmstrasse“.
Kollektiv klingt moderner, hipper als Verein oder Arbeitsgemeinschaft. Überspitzt ausgedrückt: Sobald sich zwei DJs treffen, nennen sie sich Kollektiv. Ist gut fürs Marketing. „Vom Freundeskreis zum Kollektiv ist es nicht weit”, sagt David Reitenbach von Kalonoma. Das Kreativkollektiv vereint neun junge Menschen aus den unterschiedlichsten Disziplinen, von Musik bis Film. Für die Form des Kollektivs hätten sie sich vor allem wegen der Offenheit und Flexibilität entschieden. Ein Aspekt, der die meisten jungen Kollektive in München eint. Sich auf eine gemeinsame, starre Identität festzulegen, würde nicht passen. Das Kollektivprinzip spiegelt so auch die gesellschaftlichen Ambitionen der jüngeren Generation wider: Gleichstellung, Inklusion, Meinungsfreiheit, kollektive Kreativität.
Stichwort kollektive Kreativität: Besonders im Film und Theater sind Kollektive fruchtbar. Austausch und die gegenseitige Kritik sind wichtige Elemente im Schaffensprozess. Danijel Szeredy vom Münchner Theaterkollektiv In:between sagt: „Als Kollektiv aufzutreten heißt, die eigenen Gedanken ständig zu hinterfragen, zu ergänzen und schlussendlich zu bereichern. Wir arbeiten im Dialog. Was im Grunde Theater ist und sein soll.“ Auch beim Film-Kollektiv Zugdirekt wird auf Hierarchien verzichtet. Entschieden wird laut Gründer Amon Ritz nach dem Leitspruch: „Die am besten durchdachte Idee gewinnt.“
Das Streichen von Hierarchien, um den kreativen Prozess zu erleichtern, sieht auch Theresa Bittermann von Wut als passende Definition von Kollektivität: „Die Bezeichnung Kollektiv beschreibt unser chaotisches und hierarchiefreies Wirken am ehesten.“ Kollektive stehen für Offenheit und flache Hierarchien. Das birgt aber Konfliktpotenzial.
Jesaja Rüschenschmidt, der an mehreren und vor allem politischen Kollektiven in München beteiligt ist, sagt: „Es macht den Leuten auch nicht wirklich Spaß, ihre Freizeit und wertvolle Lebensenergie für zerschmetternde Rückschläge, Frust und Stress einzutauschen.“ Aber auch das ist etwas, was die vielen jungen Kollektive in München eint: Sie wollen nicht einfach nur mit ihren Freunden Spaß haben, sie haben Anliegen, die sie unbedingt umsetzen möchten.
München ist voller Kollektive: Acht aus den verschiedensten Bereichen stellen wir euch hier vor
1. Gleichberechtigung sucht man noch an vielen Ecken vergebens. Vor allem die DJ-Szene ist überwiegend männlich dominiert. Das macht Julia Bomsdorf, 23, wütend. Sie hat das Kollektiv Wut gegründet: Der Zusammenschluss junger Menschen will die Enttäuschung in etwas Positives umsetzen und Frauen den Einstieg in die Musikszene ermöglichen. Mit Technik-Workshops, aber auch mit einer Kampagne in Münchner Clubs, die sexuelle Belästigungen verhindern will. Diese Aufgaben sind allein schwer zu bewältigen. „Solidarische Arbeitsteilung bringt uns alle weiter und bewahrt uns vor einem potenziellen Nervenzusammenbruch, der von der Selbstausbeutung kommen kann“, sagt Julia. Gemeinsam sei man schließlich weniger allein. Viktoria Molnar
2. Die Kraft liegt in der Vielfalt – so könnte man das Credo des Kollektivs Kalonoma bezeichnen. Seit 2014 vereint das Kollektiv neun junge Menschen, die in unterschiedlichen Disziplinen arbeiten: als Musiker, Designer oder auch als Filmemacher. Dabei wird darauf geachtet, Synergien zu erzeugen und den Schaffensprozess der anderen zu unterstützen. Jedes Jahr organisiert das Kollektiv eine Gruppenausstellung, vergangenes Jahr wurde dieses Event gar zum Festival mit mehreren Livebands. David Reitenbach, der seit der Gründung dabei ist, sieht in der Interdisziplinarität auch eine Herausforderung für die Gruppe: „Wir müssen eine gemeinsame Sprache finden, um uns zu verstehen. Ist das erst einmal geschafft, steht uns die Welt offen.“ Wolfgang Westermeier
3. Wer auf das Portfolio von Dreschwerk.Kollektiv blickt, dem wird sofort klar, dass das zehnköpfige Team eine Sache besonders gut kann: die perfekte Party veranstalten. Seit 2012 versorgen sie die Club-Szene mit Licht- und Videoinstallationen, sowie mit DJs. Beim Streetlife Festival haben sie beispielsweise vor der Ludwigskirche für den Sound und die passenden videogesteuerten LED-Installationen gesorgt. Dabei greifen sie auf das Können von vielen Personen zurück: „Im Kollektiv kommen viele Fähigkeiten und viel Spezialwissen zusammen. Im Alleingang wäre das nicht machbar“, sagt Mitbegründer Andi Drescher. Die Arbeit zahlt sich aus: Die Nachfrage steigt mittlerweile auch abseits der Club-Szene, etwa durch Messeaufträge. Aylin Dogan
4. Bei dem jungen Kollektiv Zugdirekt gibt es keine Hierarchie. „Die am besten durchdachte Idee gewinnt“, sagt Amon Ritz, einer der Gründer. Entstanden aus einer Theatergruppe in der Schule, sind sie jetzt eine Gruppe von zehn jungen Menschen, zwischen 15 und 23 Jahren, die neben Theater auch Musikvideos, Events, Licht- und Videoinstallationen, Performance, Literatur und Fotografie machen. Ihre Filme sind mehrfach ausgezeichnet, kürzlich kam ein Preis des Filmfestivals „Flimmern und Rauschen“ hinzu. Die jungen Kreativen stammen aus unterschiedlichsten Bereichen. Sie gehen noch zur Schule, haben einen Job oder studieren, wie Amon, etwa Computerlinguistik. Und ganz nebenbei gestalten sie in ihrer Freizeit Projekte. Amelie Geiger
5. „Tanz dich glücklich“ ist das Motto des Musik- und Veranstaltungskollektivs K6Kollektiv. 2014 wurde es von DJs gegründet. Neben eigener Musik und Veranstaltungen für elektronische Tanzmusik bietet das Kollektiv jungen DJs auch eine Plattform, ihren individuellen Musikstil frei auszuleben. „Dabei geht es uns darum, mit unserer Musik Glücksgefühle zu schaffen, um sich in der Musik, im Tanz und im Jetzt zu verlieren“, sagt Philipp Maul, Mitbegründer des Kollektivs. Genauso wichtig wie Glücksgefühle sind die gleichen Auffassungen der Mitglieder, was gute Events und Zusammenarbeit betrifft. Und: „Am liebsten setzen wir das Ganze an ungewöhnlichen Orten um, was in München natürlich nicht so einfach ist“, sagt Philipp. Alina Venzl
6. „Nicht zu schlafen“, ist vielleicht das Ziel jeder Party. An Silvester 2013 gründeten Stephan Kniep, Andres Angarita Mafla, Aquiles Valdivia Orozco und Juan Escallon Chiappe das Kollektiv Nie Wieder Schlafen, das sich mittlerweile von München aus zu einer weltweiten Musik- und Modemarke entwickelt hat. Zunächst wollten sie nur Events in Berlin organisieren, jetzt ist ihr Fokus viel breiter. Sie verstehen sich als Plattform für elektronische Musik, der mittlerweile mehr als 50 DJs angehören. Wichtig ist vor allem eins: „Die Individuen mögen sich bei jedem Event ändern, doch das Kollektiv, die Werte und die Ziele bleiben die Gleichen. Wir fördern junge Künstler und geben ihnen die Chance, Auftritte bei uns zu bekommen“, sagt Stephan, 26. Alina Venzl
7. Professionelle Filme sind selten das Projekt einer einzigen Person. Eigentlich selbsterklärend, wenn man an all die Schritte denkt: Kamera, Drehbuch, Schnitt, Produktion und weiteres. So schlossen sich Ende 2017 drei Studenten der HFF – Max Scherer, Philipp Link und Tobias Blickle – zusammen und gründeten Gute Zeit Film, ein „temporary collective“. Unter ihren Projekten sind „Summer Hit“, ein Film über eine Liebesbeziehung während eines Erasmus-Austausches und die Kurzfilmreihe „Europe, old love“. In beiden Fällen begrenzt sich das Kollektiv nicht auf eine Zusammenarbeit mit Münchnern, sondern sie kooperieren mit Filmschaffenden aus ganz Europa. Bei den meisten Projekten sind die Aufgaben untereinander aufgeteilt. Max Fluder
8. Das Theaterkollektiv in:between paart politisches Engagement und Theaterarbeit. Azeret Koua, Julia Schleier, Danijel Szeredy und Marion Weber kennen sich seit fünf Jahren und haben früher schon zusammengearbeitet, als sie 2018 das Theaterkollektiv in:between gründeten. Als Künstlergruppe teilt man oft eine gemeinsame Ästhetik, bei ihnen ist jedoch das Gegenteil der Fall: „Unsere Kunstarbeit und -auffassung könnte nicht unterschiedlicher sein, wenn wir aber im Kollektiv sind, geben wir unsere persönlichen Unterschriften auf, um etwas ganz Unterschiedliches, ganz neues zu schaffen“, sagt Danijel. Eine Besonderheit ist, dass jeder alles macht. Es wird zusammen gespielt, Regie geführt, sich um Licht und Ton gekümmert. Alina Venzl
Foto (von oben links, im Uhrzeigersinn): Felix Rodewaldt, Kalonoma, Patricia Sprenger, Yan Boo, Tobias Blickle, Sophia Carrara, Giulia Gallizzi, Zugdirekt)
Collage: Dennis Schmidt