Visionen statt Erfahrung

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Zuhören, Ziele abstecken, Dranbleiben: Philipp von der Wippel, 18, hat eine gemeinnützige Internetplattform
entwickelt, die Menschen bei der Umsetzung ihrer Ideen unterstützt – Project Together

Am Anfang steht die Idee. Nur leider bleibt es oft dabei.
Philipp von der Wippel, 18, hat jedoch selbst erfahren, wie weit es
Ideen bringen können, wenn sie Wirklichkeit werden: bis zur 10 Downing
Street. Nur wenige Monate, nachdem er bei seinem Auslandsaufenthalt mit
Mitschülern eine Bewusstseinskampagne für das Leid in Syrien initiiert
hat, weitet sich die Bewegung auf mehr als 300 Schulen aus, und: Die
Macher werden von der britischen Regierung eingeladen, ihr Projekt
vorzustellen.

Zu erleben, wie viel man gemeinsam erreichen kann, sei für ihn der
Anstoß gewesen, mit der Entwicklung von „Project Together“ zu beginnen,
erklärt Philipp. Während der Oberstufe entwickelt er das Konzept für
eine gemeinnützige Internetplattform, die Menschen bei der Umsetzung
ihrer Ideen unterstützt. Selbst erhält Philipps Idee wiederum Starthilfe
von seinem Mentor Michael Pirker, einem Freund der Familie, der während
einer beruflichen Auszeit das Projekt mitgründet. Getragen wird die
Initiative heute von einem Dutzend Ehrenamtlichen im Alter zwischen 18
und 25. Einer von ihnen ist Alexander Bucher, 22. Der
Elektrotechnik-Student kümmert sich um die Koordination der Projekte.

Auf seinem Computerbildschirm zeigt er, wie interessierte
Projektgründer mit der Organisation Kontakt aufnehmen. Zunächst müssen
sie anhand eines Fragebogens präzisieren, welche Idee sie verfolgen und
was sie dafür benötigen. Das dient nicht nur dem Team von Project
Together zur Einordnung der Anfrage, sondern soll bereits den
Interessenten helfen, sich selbst ein klares Bild ihrer eigenen Idee zu
machen. „Die meisten geben hier an, dass sie sich bereits nach dem
Beantworten der Fragen zuversichtlicher fühlen, ihr Projekt umzusetzen“,
sagt Projektkoordinator Alexander.

In den folgenden acht Wochen erhält der Mentee einmal pro Woche ein
Telefoncoaching von einem ehrenamtlichen Mitarbeiter. Es gehe hier nicht
um Beratung, betont Philipp, sondern darum, unterstützende Fragen zu
stellen. Gemeinsam werden die Fortschritte der vergangenen Woche
besprochen und Ziele für die nächste abgesteckt.

Zu den ersten Mentees des Projektes gehörte Arjan Stockhausen, 21.
Der Kunststudent lernt Philipp vor eineinhalb Jahren kennen. „Damals war
ich noch ganz am Anfang“, sagt Arjan. Im Gespräch mit Philipp habe er
seine Idee erstmals konkret für jemand anderen formuliert: Er will eine
Online-Plattform aufbauen, auf der sich junge Künstler vermarkten und
vernetzen können. In zahllosen Telefonaten und E-Mails habe Philipp ihm
geholfen, seine Vision zu strukturieren. Gerade in dieser Anfangsphase,
in der man sich kaum traue, überhaupt über die Idee zu sprechen, seien
ganz einfach Dinge eine große Hilfe, erklärt Arjan: Zuspruch zu finden,
gemeinsam Ziele zu formulieren. „Ich weiß nicht, ob ich das Projekt
sonst umgesetzt hätte“, sagt der Kunststudent. „Ideen sind etwas so
Fragiles.“ Inzwischen hingegen ist aus der fragilen Idee ein konkretes
Projekt geworden: Bereits rund hundert Künstler findet man auf der
Plattform „Global Canvas“.

Zuhören, Ziele abstecken, Dranbleiben – so banal es klingt, was
Project Together für die Projektgründer leistet: Psychologisch helfen
sie ihnen dabei an einer der schwierigsten Hürden. Professor Dieter
Frey, Lehrstuhlinhaber des Bereichs Sozialpsychologie an der LMU,
bestätigt: „Fragen und Reflexionen, die von außen kommen, erhöhen die
Erfolgswahrscheinlichkeit.“ Dass die ehrenamtlichen Mitarbeiter von
Project Together mit ihren jungen Jahren nicht viel Erfahrung
mitbrächten, sei dabei nicht zwingend problematisch, es gehe vielmehr
darum, endlich mit der eigenen Idee das stille Kämmerlein zu verlassen.
„Der Vorteil von Außenstehenden, die kritische Fragen stellen, ist, dass
sie nicht betriebsblind sind. Es findet ein Zusatzdialog statt, der
sehr oft unterbleibt, wenn man im eigenen Saft schmort“, erklärt der
Sozialpsychologe. Deswegen würde er den Machern raten, an einem Konzept
festzuhalten, bei dem man Feedback von realen Personen erhält.

Aber Project Together soll wachsen. Und zwar immens. Nach rund 80
betreuten Projekten – darunter sogar eines aus Afrika – denken die
Macher bereits in ganz großen Dimensionen: 100 000 Ideen sind das
nächste Ziel, so Philipp. Natürlich reicht hierfür eine Handvoll junger
Menschen am Telefon nicht aus. Aber das Coaching, wie es jetzt noch
betrieben wird, soll nicht mehr nötig sein, wenn die Plattform weiter
ausgebaut ist. „Vieles wird dann automatisierter ablaufen, erklärt
Alexander. Über die Zeit werde die Datenbank der Projekte anwachsen und
damit auch ein breites Wissen darüber, welche Herangehensweise sich
jeweils als zielführend herausgestellt hat, und wer an welchem Projekt
beteiligt war. „Durch die vielen Informationen, die wir sammeln, können
wir Menschen sehr effektiv zusammenbringen“, erklärt Philipp. Das
Coaching wird dann im besten Fall von der Community, die bereits von
Project Together profitiert hat, übernommen anstelle von einzelnen
ehrenamtlichen Mitarbeitern.

Möglichst vielen Menschen zu ermöglichen, ihre Ideen umzusetzen, ist
für Projektgründer Philipp in erster Linie eine politische Maßnahme für
mehr Demokratie. „Wirkliche Veränderungen in der Gesellschaft entstehen,
wenn einzelne Veränderungen wagen“, erklärt er – wie etwa ein paar
16-Jährige Schüler mit einer Initiative für Syrien.

Das politische Anliegen hinter Projekt Together ist unter anderem
Anlass, es baldmöglichst in eine Stiftung zu überführen. Dabei soll
jedoch nicht nur die Unabhängigkeit von externen Geldgebern, sondern
auch von Gründer Philipp gewonnen werden. „Falls ich plötzlich
überfahren werde, soll das Projekt auch ohne mich weiterbestehen“,
erklärt der 18-Jährige die Vorkehrungen für sein Erbe. Etwas Nachhaken
ergibt: Vielleicht auch für den Fall, dass es ihn nun nach dem Abitur in
eine ganz andere Richtung verschlägt.

Von: Susanne Krause

Örtchen mit Ausblick

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Historisch betrachtet haben wir uns von der Toilette als einem geselligen Ort wegbewegt – heutzutage bereitet es schon Grauen, jemand könne auch nur die erzeugten Geräusche mitbekommen. Eine Kolumne über das Örtchen, auf dem versucht wird, die einsame Zeit nicht zu langweilig werden zu lassen.

Während Frauen von heute sich nur angeregt durch die Kabinenwand unterhalten – und das laut meiner Erfahrung auch weit seltener, als ihr Ruf vermuten lässt – saßen die alten Römer in ihren Gemeinschaftslatrinen nebeneinander aufgereiht und plauderten ausgiebig. Die Toilette als fröhlicher Sitzkreis? Vielen modernen Menschen graut es ja allein bei der Vorstellung, jemand könne auch nur hören, dass sie auf dem stillen Örtchen nicht immer still sind. Japaner bauen zu diesem Zweck sogar Mechanismen in ihre Toiletten, mit denen man auf Knopfdruck unästhetische Geräusche durch künstliches Wasserrauschen übertönen kann.

Ein Blick auf die Geschichte legt nahe, dass Toiletten zu einem einsamen Ort geworden sind. Vielleicht hängt in der Gästetoilette von Judiths WG genau deswegen ihre Sammlung von Kontaktanzeigen. Da sucht etwa ein schwerhöriger Autor einen Ex-Priester für eine symbiotische Beziehung. Oder ein Mann jene Traumfrau, die sich die Hände wäscht, nachdem sie einen Hund gestreichelt hat.

WG-Toiletten sagen oft weit mehr über die Bewohner aus als der Rest der Wohnung. Sie sind das Aushängeschild schlechthin. Denn kein Ort eignet sich so sehr für alberne Details wie der einzige gemeinschaftliche Raum, den man nie gemeinschaftlich benutzt. Wahrscheinlich hat man sich das von Restaurants abgeschaut, die vermehrt darauf abzielen, dass man zu seinen Tischnachbarn mit einem Stapel Postkarten zurückkehrt und ihnen dann zuraunt, sie müssten nachher unbedingt auch noch einmal auf’s Klo. Mit Judiths Kontaktanzeigenkabinett geht es mir ähnlich.

Wenn ich es auch für unwahrscheinlich halte, dass wir dabei bald im Halbkreis sitzen und über Heidi Klums Liebesleben diskutieren – der Trend geht zum Erlebnispinkeln. Neben einem Gästebuch, das vom Klorollenspender baumelt und den regen Besucherstrom dokumentiert, findet sich auf Münchner WG-Toiletten etwa ein Gameboy mit der zugehörigen Tetris-Highscore-Liste. Mein ödes Badezimmer hat dagegen wenig zu bieten. Ich traue mich kaum mehr, Gäste einzuladen. Wahrscheinlich hätte ich doch die Wohnung nehmen sollen, die ich Sommer besichtigt habe: Hier lag die Kloschüssel direkt gegenüber der Balkontür. Dann könnte ich meinen Gästen jetzt einen Ausblick ins Grüne bieten.

Von Susanne Krause

Mission Eisbein

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Kochen ist nicht für jeden Teil des Alltags – für manche ist es geradezu eine Herausforderung. Es könnte ja schließlich passieren, dass etwas in die Luft fliegt. Eine Kolumne über Menschen, denen im Kindesalter eine Lektion über grundlegende Nahrungszubereitung verwehrt geblieben ist.

In Sörens Vorstellung gleicht Kochen einer James-Bond-Mission: Es ist kompliziert und potenziell lebensgefährlich. So viel Abenteuer-Geist hat Sören dann auch nicht. Nun aber hat er sich unter meiner Anleitung auf eine riskante Mission eingelassen: Reis kochen. Seit ich ihm vor fünf Minuten erklärt habe, wie das geht, schleicht er misstrauisch um den Topf herum. Warum? Weil er Angst hat, sein Reis könnte explodieren. Ich höre auf, im Wok zu rühren, und werfe einen Blick hinüber. Die Körner blubbern friedlich im Wasser. Vielleicht ist das wie bei Popcorn, wirft Sören ein: Alles still und plötzlich fliegt uns das Zeug um die Ohren. Bleibt nur die Frage, wer unsere WG mit gentechnisch verändertem Sprengstoff-Reis in Schutt und Asche legen will.

Für gewöhnlich explodieren Mahlzeiten nicht – außer man fügt Feuerwerkskörper hinzu. Das ist eine goldene Faustregel, die Sörens Mama ihm nie erklärt hat. Er ist nicht der einzige, der ohne kulinarisches Vorschulgrundwissen aus dem Elternhaus entlassen wurde. Individuen jenseits der Zwanzig, die ihre Umwelt mit Fragen der Kategorie „Woran erkennt man, dass Wasser kocht?“ und „Wie ist es eigentlich möglich, ein Schnitzel von beiden Seiten braun zu bekommen?“ in Verlegenheit bringen, lassen eigentlich nur eine Erklärung zu: Ihre Eltern haben das Essen in hermetisch abgeriegelten Küchen zubereitet. Sören findet das wahrscheinlich verantwortungsvoll – es dient schließlich nur dem Schutz der Kinder.

Ich muss selbst zugeben: Auch wenn Mahlzeiten ohne Feuerwerkskörper für gewöhnlich nicht explodieren, können diese großen kulinarischen Vorschulkinder doch erstaunlich ähnliche Reaktionen hervorrufen. Der Mitbewohner einer Freundin zum Beispiel hat es geschafft, bei der Zubereitung des Eisbeins, das Mama ihm für den ersten Geburtstag außer Haus vorbereitet hat, die gesamte WG-Küche in eine Schaumparty zu verwandeln – leider mit sehr fettigem, stinkendem Schaum. Wahrscheinlich gab es doch einen Grund, warum sich seine Eltern damals in der Küche eingeschlossen haben. Ich nehme Sören vorsorglich den Löffel ab. Sicher ist sicher.

Von Susanne Krause

Das Heimweh der Kosmopolitin

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Lisa aus Bayern hat ihren ersten Job in London – und Heimweh. Nach Jahren der gedanklichen Flucht aus dem weiß-blauen Bundesland sehnt sie sich nach dem Ort, der plötzlich die gute, alte Heimat ist. Und verwandelt die neuen Anwandlungen in Lehrstunden bayerischen Kulturgutes.

Bayerische Heimatgefühle? Gingen stets gegen null. In München? Da wollte sie nie wohnen. Lisa wollte weg. Nach einer halbjährigen Reise um die Welt pendelt sie nun wöchentlich für ihren ersten Job nach London. Das klingt ziemlich kosmopolitisch, finde ich. Für eine steile Karriere als Weltbürgerin steht Lisa allerdings ein wichtiges Detail im Weg: Jetzt hat sie Heimweh. So viel Heimweh, dass sie plötzlich bayerisch-patriotische Gefühle entwickelt, die ihr ein bisschen peinlich sind.

Im Allgemeinen sind Menschen schlecht konzipiert: Dinge, die da sind, fallen ihnen oft erst auf, wenn sie wieder weg sind. Über die emotionale Reife eines dreijährigen Kindes, das nur merkt, wie interessant ein Spielzeug ist, wenn man es ihm wegnimmt, kommt man schlichtweg nie hinaus. Die Schulzeit – damals: Montagmorgen, erste Stunde Mathe, grauenvoll! – ist auf Klassentreffen plötzlich eine magische Zeit. Und der öde Ort, in dem man aufgewachsen ist, verdient sich die Vorsilbe „Heimat-“ erst, wenn man ihn verlassen hat.

Da hat Lisa eine ganze Kindheit und Jugend im weiß-blauen Freistaat verlebt, um erst im britischen Exil zu entdecken, dass sie sich dort eigentlich ziemlich heimisch gefühlt hat. Leider hat sie nun – nach Jahren, die mehr den Fluchtgedanken als der Brauchtumspflege gewidmet waren – viel zu wenige Möglichkeiten, diesen neuen Heimatgefühlen Luft zu machen. Lisa spricht ja nicht mal bairisch! Dafür ertappt sie sich dabei, in Dialekt zu denken und in London als selbsternannte Botschafterin bayerischer Bierkultur aufzutreten: Ihre Kollegen lauschen begeistert den Ausführungen, wie man sich korrekt zuprostet („Always look into each other’s eyes!“) und dass man „Noagal“ im Glas nicht austrinkt („Never!“). Das ist immerhin ein Lichtblick am Horizont. Wenn Lisa die Bajuwarisierung der angelsächsischen Welt weiter so fleißig vorantreibt, könnte sich das Heimwehproblem bald erledigt haben.

Von Susanne Krause

Man kennt sich ja vom Sehen

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In München geht der Trend zum Luxus-Loft. Vollverglast, wenn möglich. Schön für alle Menschen, die gegenüber wohnen und es sich zur Abendgestaltung auf dem Balkon bequem machen.Nur das nächste Treffen mit den neuen Nachbarn im Supermarkt könnte unangenehm werden.

Judith hat sich an meiner Balkontür für einen Schaufensterbummel eingerichtet. „Und, was machen deine Nachbarn so?“, fragt sie und mustert die Fenster der Mietshäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich zeige ihr die Wohnung, die auch während des Sturmtiefs Xaver ihre Bierkästen zum Kühlen außen auf dem Fenstersims stehen hatten, die Küche, in der manchmal ein Vater sein Baby in die Luft wirft, das Fenster, von dem aus eine junge Frau morgens beim Zähneputzen die Straße beobachtet. Ellen wiederum beobachtet uns. Und zwar kritisch. „Vor Leuten wie euch habe ich immer Angst“, sagt sie schließlich. Ellen gehört zu den Spielverderbern, die ihre Vorhänge fest zuziehen.
Voyeurismus hat keinen besonders guten Ruf. Komisch: Da beschweren sich alle immer über die Anonymität der Großstadt (mein Mitbewohner ist fest davon überzeugt, dass im Mittelalter noch vieles besser war), aber wenn man sich die Mühe macht, am Leben seiner Nachbarn teilzuhaben, ist das auch nicht richtig. Wobei: Oft muss man sich gar nicht so besonders viel Mühe geben – Panorama-Fensterfronten und riesige Plasmafernseher machen oft eher Zurückhaltung mühevoll … das sah in mittelalterlichen Städten übrigens noch ganz anders aus!

Gerade Ellen sollte das eigentlich wissen: Ihre WG hat einen perfekten Ausblick auf das vollverglaste Luxus-Loft gegenüber. Da kennt man sich ziemlich bald, ohne auch nur die Wohnung verlassen zu müssen. Als Ellens Mitbewohnerin die gläsernen Nachbarn dann mal ganz real beim Einkaufen trifft, ist die Stimmung jedoch alles andere als vertraut. Schließlich grüßt man sich zaghaft – man kennt sich ja vom Sehen –, zu einem Gespräch über den Film, der am Abend zuvor auf dem Plasmafernseher lief, kommt es dann aber nicht mehr. Judith hätte vielleicht nachgefragt.

Leider wurden die Scheiben am Luxus-Loft durch Milchglas ersetzt, ehe sie einen Umzug aus ihrer aussichtsarmen Erdgeschosswohnung erwägen konnte. Aber wer weiß: In München sind Judiths Hoffnungen, dass bald ein vollverglastes Luxus-Loft vor ihrem Fenster aufragt, eigentlich ziemlich realistisch.

Von Susanne Krause

Angry Birds beruhigen

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Wir werden unwiderruflich erwachsen. Richtig alt ist man aber erst, wenn man den Niedergang der nächsten Generation prognostiziert. Etwa so, wie wir damals alle an der Erfindung des Tamagotchis zugrunde gehen sollten. Aber wir leben noch! Oder?

Dinge, die sich wiederholen, haben etwas Beruhigendes: Die Vorspannmusik der Lieblingsserie zum Beispiel. Oder dass Mamas Sonntagsbraten immer gleich schmeckt. Auch Dinge, die man wieder hervorholt, haben etwas Beruhigendes – wenn man nicht gerade wie mein großer Bruder auf Besuch im Elternhaus daran scheitert, seine erste Spielekonsole wieder zum Laufen zu bringen. Ich weiß natürlich, warum alles Pusten nicht hilft: Weil ich ein wichtiges Teil für meine Konsole gemopst habe, um meine Mario-Kart- und Pokémon-Fähigkeiten aufzufrischen. So ein bisschen psychologische Regression ins Kindesalter gehört ja gerade in der Weihnachtszeit dazu.

Leider fühle ich mich plötzlich wieder sehr alt, als da drei richtige Kinder vor mir sitzen und angestrengt auf die Figur starren, die ich gerade für sie gemalt habe. ,,Das ist doch dieses eine Pokémon‘‘, sagt schließlich der Älteste zweifelnd. Kinder, die Pikachu nicht mehr kennen! Wir werden unwiderruflich erwachsen. Richtig alt ist man aber erst, wenn man den Niedergang der nächsten Generation prognostiziert. Etwa so, wie wir damals alle an der Erfindung des Tamagotchis zugrunde gehen sollten. Mein Bruder hat immerhin mal wegen eines Tamagotchis einen Tischtennisschläger gegen den Kopf bekommen. Gravierendere Langzeitfolgen sind mir allerdings noch nicht begegnet.

Schon Sokrates soll sich über den Niedergang der Jugend beschwert haben. Gegen Schrift war er übrigens auch – wahrscheinlich sah er damals als erster, dass sie zu Teenie-Vampirromanen und dämlichen Diskussionen in Internetforen führen würde – und zu Anfangzwanzigern, die sich ganz in Sokrates’ Tradition darüber ereifern, warum die Kinder von heute an Smartphones und Facebook zugrunde gehen; diese Diskussionen führen sie natürlich auf einschlägigen Facebook-Seiten via Smartphone. Es hat etwas Beruhigendes, wie sich alles wiederholt: Falls sich die Achtjährigen von heute nicht alle folgenreiche Kopfverletzungen durch geworfene Smartphones zuziehen, seufzen sie wahrscheinlich in fünfzehn Jahren, wie idyllisch ihre Kindheit mit den Angry Birds damals doch war.

Von Susanne Krause

Klingelputzen nachts um drei

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Sören und Susanne überdenken den Nutzen der Klingel. In Zeiten permanenter Smartphone-Kommunikation ist diese doch überflüssig. Oder vielleicht doch nicht?

Das Geräusch der Klingel bedeutet selten etwas Gutes. Es ist lange her, dass ein Freund spontan an der Tür stand und gefragt hat, ob ich Lust habe, zum Spielen rauszukommen. Wenn heute Freunde zu Besuch kommen, weiß man von deren Ankunft durch vorangegangene U-Bahn-verspätet-sich-SMS meist bereits so genau, dass man den Türöffner auch ohne Klingel im richtigen Moment drücken könnte. Mein Mitbewohner Sören schlägt deshalb vor, wir sollten unsere Klingel gleich ganz ausschalten. Das würde uns viele nervige bis verstörende Intermezzi an der Sprechanlage sparen. Wir würden morgens nicht mehr von dem Austräger der Stadtteilzeitung geweckt, der so lange mit der Hand gegen das Klingelpanel schlägt, bis ihn irgendwer ins Treppenhaus lässt. Und nächstes Halloween müssten auch wir nicht mehr überlegen, wie es möglich ist, trotz des Vordachs über der Haustür Wasserbomben auf die betrunkenen Klingelputzer zu werfen.

Bestätigt wird Sören auch von der Dame an der Gegensprechanlage, die auf ihren Arzttermin bei Dr. Krause besteht. Ich stecke meinen Kopf aus der Zimmertür in den Flur, wo mein Mitbewohner bereits seit einer Minute vergeblich darauf beharrt, dass wir eine Privatwohnung sind. Die Dame unten vor der Haustür sieht das anders. Ich persönlich fände eine Arztpraxis nicht besonders vertrauenserweckend, wenn der Name des Arztes auf ein Fuzel Papier geschrieben und schief mit Tesa über das Klingelschild gepappt ist. Aber meine selbsterwählte Patientin lässt sich auch dann nicht abwimmeln, als ich Sören den Hörer abnehme und erkläre, dass ich über keinerlei medizinische Ausbildung verfüge. ,,Ich habe aber einen Termin‘‘, sagt sie empört. Ich beginne Sörens Plan gutzuheißen.

Aber dann, eines Tages nachts um drei. Es ist kalt. Ich stehe auf wundgetanzten Füßen unter dem Vordach an der Haustür. Mein Schlüssel? Nicht da. Ich erinnere mich wieder daran, wofür Türklingeln gut sind: Um den Mitbewohner wach zu klingeln, der sein Handy vor dem Schlafengehen lautlos gestellt hat.

Von Susanne Krause

Facebook für Neandertaler

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Wer kennt es nicht – das “Stolz-Wie-Oskar” Gefühl, wenn man etwas selbstgemacht hat: sei es eine Torte oder ein Bett. Forscher aus Harvard nennen das den “Ikea-Effekt”. Dinge, an deren Entstehung wir beteiligt waren, halten wir für wertvoller. Das war wohl schon bei den Neandertalern so. Nur hatten sie kein Smartphone, um ihren archaischen Stolz zu verbreiten.

Der erste Mensch, der Feuer gemacht hat, kam sich sicher saumäßig cool vor. Wahrscheinlich war es ein mickriges Funzel-Feuerchen, vor dem er da voller Stolz kniete – nichts im Vergleich zu dem, was Mutter Natur in unregelmäßigen Abständen frei Haus lieferte. Aber dieses mickrige Funzel-Feuerchen da, das hatte er selbst gemacht!

Erst gut eineinhalb Millionen Jahre nach diesem Vorfall wird der „Ikea-Effekt“ entdeckt. Forscher aus Harvard betiteln so folgendes Phänomen: Dinge, an deren Entstehung wir beteiligt waren, halten wir für wertvoller. Wer schon mal einen Kleiderschrank selbst zusammengeschraubt hat, weiß: Am Ende hat man mindestens drei Holzdübel abgebrochen und ein Brett so eingesetzt, dass die unlackierte Spanplatte nach vorne zeigt. Trotzdem stellt sich beim ersten Anblick des fertigen Möbelstücks ein archaischer Stolz ein. Ich habe Feuer gemacht! Ich habe einen Schrank aufgebaut, dessen Namen ich nicht mal aussprechen kann! Da ist der moderne Mensch schon mal versucht, sich ein bisschen auf die Brust zu trommeln.

Erste Forschungen zum „Ikea-Effekt“ stammen übrigens aus den Fünfzigern und wurden mit Kuchenbackmischungen durchgeführt. Wirklich sinnvoll ausnutzen kann man ihn bei Gebäck allerdings erst, seit die Erfindung von sozialen Netzwerken es erlaubt, nicht nur Kuchen zu backen, sondern das – zugegeben – nicht ganz so archaische Ich-habe-Kuchen-gemacht-Gefühl dauerhaft auf Fotomaterial zu bannen und mit der virtuellen Welt zu teilen. Man sollte den modernen Mensch dafür aber nicht zu sehr verurteilen: Hätte der Urzeitmensch ein Smartphone gehabt, auch er hätte ein Foto des Feuers an seiner Pinnwand geteilt.

Marlene bleibt bei all dem kritisch. Sowohl was Möbel als auch was Backmischungen betrifft. Sie ist ein seltener Sonderfall: Ihr Bett bedeutet ihr viel, allerdings, weil es ihr Freund gebaut hat und das ganz ohne Anleitung und vorgefertigte Bauteile. Und Marlene backt nicht nur Kuchen ohne Fertigmischung, sondern vergärt auch Sauerkraut, weckt Gemüse ein und stellt Apfelwein her: ohne je ein Bild davon zu posten. Sie ist einer von den Menschen, in deren Gegenwart ich das Bedürfnis bekomme, Möbel aufzubauen, einfach nur für ein bisschen Selbstbestätigung. Zum Glück fährt sie am Wochenende los, um sich ein Kellerregal für ihre vielen Einweckgläser zu kaufen. Vielleicht darf ich es ja zusammenschrauben.

Von Susanne Krause

Revierkämpfe im Bett

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Wen stört schon ein winziges Bett, wenn man überhaupt in München eine Bleibe findet. Aber: Wer möchte schon in München wohnen, wenn man ein winziges Bett hat und einen Freund, der jedes Eck Matratze für sich in Beschlag nimmt…

In einer Beziehung braucht man Freiräume. Heißt es immer. Und wenn man zusammenzieht, sollte trotzdem jeder sein eigenes Reich haben. Wie das genau funktioniert – vor allem bei den Münchner Quadratmeterpreisen – erklärt leider niemand. In München ist man doch klar im Vorteil, wenn man überhaupt zu denjenigen gehört, die sich in Beziehungen mit wenig Freiraum zufrieden geben können: Mit 1,2 Quadratmeter zum Beispiel.

1,2 Quadratmeter: Das ist die Hälfte der Fläche eines 1,20-Meter-Bettes. Ali zeigt mir ein Foto von diesem Bett. Es wurde von einem befreundeten Pärchen – ich nehme an – irrtümlicherweise für ein Doppelbett gehalten, käuflich erworben und steht in der gemeinsamen Wohnung. Noch immer in dem Glauben, eine Schlafgelegenheit für zwei zu besitzen, hat das Paar Ali und ihrem Freund die Wohnung als Übernachtungsmöglichkeit überlassen, während es selbst Kleinraum-Urlaub mit Campingwagen macht. Das Bild auf Alis Smartphone zeigt deshalb kein zusammengekuscheltes Pärchen, sondern nur Alis Freund im Tiefschlaf: Er füllt die 2,4 Quadratmeter in Embryonalstellung ganz allein aus. Ali selbst braucht ihr eigenes Reich. Deshalb schläft sie auf dem Sofa.

Wie viel Freiraum man im Reich der Träume braucht, darüber scheiden sich die Geister. Ich habe schon alles gehört: Dass die Matratze unbedingt durchgehend sein muss, damit man nachts nicht durch einen tiefen Graben vom Partner getrennt ist. Aber auch, dass ein Stacheldrahtzaun in der Mitte des Betts praktisch wäre, um sich nachts den schnarchenden, Hitze abstrahlenden und um sich schlagenden Bettgefährten vom Leib zu halten. So eine Grenzlinie könnte auch Alis Schlaf verbessern, wenn ihr Freund bei seinen Übernachtungsbesuchen mal wieder nach und nach immer mehr ihres Betts in Beschlag nimmt. Solange es jedoch noch keine Betten mit effektiven Reviermarkierungen gibt, bleibt Ali nichts anderes, als sich ein neues Territorium zu erobern: Zum Beispiel, indem sie nachts einfach aufsteht, einmal ums Bett herumgeht und das freie Stückchen Matratze auf der anderen Seite annektiert.

Von Susanne Krause

Horror in der Wohnheimküche

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Wohnheimküchen sind meist nicht unbedingt der sauberste Ort auf Erden, doch als Student ist man trotzdem auf sie angewiesen, wenn man nicht verhungern will. Ob man die berühmte ‘Zehn-Sekunden-Regel’ in der Wohnheimküche anwenden sollte, ist jedoch eher fragwürdig.

Die Zehn-Sekunden-Regel besagt: Alles, was weniger als zehn Sekunden auf dem Boden lag, bevor man es wieder in die Finger bekommt, kann man noch essen. Und weil ich Essen sehr viel mehr liebe als mir Dreck unheimlich ist, bin ich einer der fanatischsten Verfechter. Ich schnappe Keksstücke vom Asphalt, ich tauche Erdnussflips unters Bett hinterher und rufe dann, mit Staubmäusen in den Haaren oder Straßenstaub an den Knien „Zehn Sekunden-Regel!“, bevor ich meine Beute in den Mund stopfe. Es gibt jedoch einen Ort, an dem diese Lebensweisheit selbst für mich ihre Gültigkeit verliert: Wohnheimküchen.

Eins vorweg: Natürlich haben Wohnheimküchen ihren Zweck. Nirgendwo sonst lernt man ähnlich kreative Rezepte kennen (in Sahnesoße erwärmte Tagliatelle an aufgebratenem Kassler, Backcamembert, Kroketten und Stracciatella-Joghurt). Aber Berge aus Altglas, undefinierbarer Schleim im Gemüsefach, eingebrannter Analogkäse aus zwei Jahrzehnten – für die Nahrungsmittelzubereitung ist ein solcher Ort denkbar ungeeignet! Wer Fertiggerichte pauschal für ungesünder hält als Selbstgekochtes, hat noch nie versucht, in einem Wohnheim Pizzateig auszurollen. Das kann man hygienisch bedenkenloser auf dem Straßenpflaster tun als auf der Arbeitsplatte einer Gemeinschaftsküche.

Auch wenn die bewährte Zehn-Sekunden-Regel hier außer Kraft tritt; natürlich gibt es auch in Wohnheimküchen Vorschriften: dass jeder sein Geschirr spülen, die Arbeitsflächen abwischen und den Backofen putzen soll, zum Beispiel. Hält sich nur keiner dran. Weil sich ja auch die anderen nicht dran halten. Das ist ein Dilemma, fast schon wie die Sache mit dem Huhn und dem Ei. Aber es ist eines, das sich lösen ließe – und zwar mit der Zehn-Sekunden-Regel. Man müsste einfach eine abgeänderte Form der Vorschrift in Gemeinschaftsküchen einführen: Alles, was herunterfällt, muss innerhalb von zehn Sekunden gegessen werden!

Von Susanne Krause