Man kennt sich ja vom Sehen

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In München geht der Trend zum Luxus-Loft. Vollverglast, wenn möglich. Schön für alle Menschen, die gegenüber wohnen und es sich zur Abendgestaltung auf dem Balkon bequem machen.Nur das nächste Treffen mit den neuen Nachbarn im Supermarkt könnte unangenehm werden.

Judith hat sich an meiner Balkontür für einen Schaufensterbummel eingerichtet. „Und, was machen deine Nachbarn so?“, fragt sie und mustert die Fenster der Mietshäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich zeige ihr die Wohnung, die auch während des Sturmtiefs Xaver ihre Bierkästen zum Kühlen außen auf dem Fenstersims stehen hatten, die Küche, in der manchmal ein Vater sein Baby in die Luft wirft, das Fenster, von dem aus eine junge Frau morgens beim Zähneputzen die Straße beobachtet. Ellen wiederum beobachtet uns. Und zwar kritisch. „Vor Leuten wie euch habe ich immer Angst“, sagt sie schließlich. Ellen gehört zu den Spielverderbern, die ihre Vorhänge fest zuziehen.
Voyeurismus hat keinen besonders guten Ruf. Komisch: Da beschweren sich alle immer über die Anonymität der Großstadt (mein Mitbewohner ist fest davon überzeugt, dass im Mittelalter noch vieles besser war), aber wenn man sich die Mühe macht, am Leben seiner Nachbarn teilzuhaben, ist das auch nicht richtig. Wobei: Oft muss man sich gar nicht so besonders viel Mühe geben – Panorama-Fensterfronten und riesige Plasmafernseher machen oft eher Zurückhaltung mühevoll … das sah in mittelalterlichen Städten übrigens noch ganz anders aus!

Gerade Ellen sollte das eigentlich wissen: Ihre WG hat einen perfekten Ausblick auf das vollverglaste Luxus-Loft gegenüber. Da kennt man sich ziemlich bald, ohne auch nur die Wohnung verlassen zu müssen. Als Ellens Mitbewohnerin die gläsernen Nachbarn dann mal ganz real beim Einkaufen trifft, ist die Stimmung jedoch alles andere als vertraut. Schließlich grüßt man sich zaghaft – man kennt sich ja vom Sehen –, zu einem Gespräch über den Film, der am Abend zuvor auf dem Plasmafernseher lief, kommt es dann aber nicht mehr. Judith hätte vielleicht nachgefragt.

Leider wurden die Scheiben am Luxus-Loft durch Milchglas ersetzt, ehe sie einen Umzug aus ihrer aussichtsarmen Erdgeschosswohnung erwägen konnte. Aber wer weiß: In München sind Judiths Hoffnungen, dass bald ein vollverglastes Luxus-Loft vor ihrem Fenster aufragt, eigentlich ziemlich realistisch.

Von Susanne Krause