Schluss mit den Wasserglaslesungen

Sieben junge Münchnerinnen haben den Verlag „&Töchter“ gegründet. Sie wollen das Lesen wieder cool und Bücher zu einem Gesprächsthema machen. Zu etwas, das gemeinsam erschaffen und erlebt, aber auch diskutiert werden kann – zum Beispiel in einem Gemüseladen.

Von Lena Bammert

Früher Abend in einem Obst- und Gemüseladen in Obergiesing, es riecht frisch und erdig, die Preisschilder hängen über den großen, abgestuften Gemüseständen. Darauf liegen an diesem Tag aber keine Lauchzwiebeln oder Karotten, sondern Kissen und Decken. Auf dem Ladenboden sind Sitzsäcke und Teppiche verteilt, von der Decke baumeln Lampions. Der Gemüseladen ist zu einer Art urbanem Wohnzimmer geworden. Menschen liegen auf dem Boden herum, manche haben auch schon ihre Schuhe ausgezogen.

Heute geht hier kein Obst und Gemüse über die Theke, es werden Wörter serviert. Wörter aus Lieblingstexten, aber auch Wörter aus selbst geschriebenen Texten, sie müssen nur zu dem Motto an diesem Abend passen: unverblümt.

Sieben junge Frauen fallen unter all den Menschen auf. Sie tragen zwar verschiedene Kleider, Jumpsuits und Röcke, aber alle haben sie Blumenmotive auf ihrer Kleidung, alle sind voller Tatendrang, Energie und Vorfreude. Und das hat einen guten Grund. Sie sind die Gründerinnen des Münchner Verlags „&Töchter“. Nina Bauer, 25, Laura Nerbel, 28, Lydia Scherf, 25, Elena Straßl, 23, Jessica Taso, 25, Stefanie Würth, 27, und Sarah Zechel, 23, machen an diesem Abend in einem Gemüseladen eine gemütliche Leserunde. Kennengelernt haben sich die jungen Frauen während des LMU-Masterstudiengangs „Buchwissenschaft: Verlagspraxis“.

„Buchwissenschaft“, das klingt nicht jung oder leidenschaftlich, das klingt nach Staub. Die sieben Frauen kennen diesen Staub, sie haben schon in Verlagen gearbeitet, deren Chefs und Entscheider doch immer noch häufig Männer sind, obwohl in den Studiengängen fast nur Frauen sitzen. In Verlagen, in denen junge Menschen kein wirkliches Mitspracherecht bekommen und deren Social-Media-Strategie dann daraus besteht, im Kalender den aktuellen „Welttag“ herauszusuchen, damit ein passendes Buchcover gepostet werden kann. Falls vorhanden.

Während des Studiums wurde ihnen irgendwann ein Buchtrailer gezeigt, der für 3000 Euro entstanden ist, aber aussah, als hätte jemand kurz sein Handy rausgeholt und auf Aufnahme gedrückt. „Da dachte ich mir, das kann doch einfach nicht wahr sein“, sagt Lydia. Sie sitzt in einem Café an der Uni und klingt weder wütend noch aufgebracht, eher verständnislos. Den anderen geht es ähnlich. Sie verstehen nicht, dass sich viele aus der Buchbranche über steigenden Leserschwund beklagen, aber gleichzeitig auch niemand bereit ist, etwas zu ändern, mal was Neues auszuprobieren, mehr zu wagen, obwohl das Publikum ja da wäre – es ist nur einfach beschäftigt oder abgelenkt durch Netflix und solche Sachen.
Das wiederum ist etwas, was Elena zumindest nachvollziehen kann, denn sie schaut selbst gerne Netflix: „Was vollkommen okay ist, man muss nur einfach mal einen guten Umgang damit finden, dass verschiedene Medien gleichwertig nebeneinander existieren können. Und Literatur nicht das eine Nonplusultra-Medium ist, das über allen anderen steht.“

Deswegen ist im Januar „&Töchter – Verlag und mehr“ entstanden. „Wir haben von Anfang an gesagt, wir wollen mehr als nur Bücher machen“, sagt Laura. Mehr als Bücher? Sie planen eine Podcastreihe „plauschen&Töchter“, und sie organisieren Veranstaltungen: „rauschen&Töchter“. Durch die Veranstaltungen, die alle paar Monate stattfinden, sollen Talente entdeckt werden. Es geht aber hauptsächlich auch darum, das Lesen wieder cool und Bücher zu einem Gesprächsthema zu machen. Zu etwas, das gemeinsam erschaffen und erlebt, aber auch diskutiert werden kann. Die Frauen wollen das Verlegen einfach anders machen, neuer, weniger arrogant, aufregender, verbindender.
Die erste Veranstaltung „weinselig“ fand Mitte Mai im Wohnzimmer von Lydia statt: „Literatur muss nicht immer nur in Buchhandlungen und Bibliotheken stattfinden, man kann das überall hinbringen“, sagt sie.

Sonntag vor einer Woche. An diesem Abend werden die Bücher in einen Obst- und Gemüseladen gebracht. Und dann wird gelesen. Von Tucholsky und Michael Ende über Margarete Stokowski und Sophie Calle geht es bis ins Wunderland von Alice und in die persönlichen, intimen Gedanken selbstgeschriebener Geschichten. Teilweise lesen die Verlegerinnen selbst etwas vor, weil es ihnen Freude macht, aber auch um den Zuhörern die Angst vor dem Lesen zu nehmen, um sie zu motivieren. Und siehe da: Zwei Texte werden spontan vorgelesen, vom Handybildschirm aus. Hauptsache, es wird mit Spaß gelesen und mit Freude zugehört, Hauptsache, es wird einfach mal was anders gemacht, Hauptsache – und das ist Laura und den anderen besonders wichtig – es gibt keine weitere Wasserglaslesung: „Das läuft halt immer nach dem gleichen Schema ab, es stehen Stühle da, man kommt rein, es gibt ein Wasserglas für den Vorleser, manchmal gibt es ein Gespräch. Aber oft sitzt jemand da und liest aus seinem Buch und danach gehen alle.“

Im Obstladen geht niemand nach der ersten Leserunde, im Gegenteil, es kommt jemand hinzu, Peter and the Lost Boy, eine junge Folk-Band aus München, ausgestattet mit Gitarre, Geige und Cajón, treten auf. Schließlich sind Songtexte auch wieder Wörter – und Auftritte dann eben musikalische Lesungen. Es gibt übrigens auch kein Wasser aus dem Glas, sondern Bier von dem Münchner Brauprojekt Isarkindl, das vor ein paar Jahren von vier Studenten gegründet wurde.

Irgendwie scheint sich ganz München hier versammelt zu haben, obwohl nur knapp 50 Leute in den Gemüseladen passen. Die jungen Verlagsfrauen sind mit dem Bruder von einem der Bier-Gründer bekannt. Und auch der Erstkontakt zur Band ist durch ein Tinderdate entstanden. „Man findet immer irgendwen, der irgendwen kennt, der irgendwas kann oder hat. Es gibt so viele junge Leute mit vielen Talenten in unserer nahen Umgebung, die Bock haben, was zu machen. Bei sieben Leuten ist das Netzwerk so groß, das man nutzen kann, als Unterstützung, um was Größeres daraus zu machen“, sagt Elena. Sie lächelt. Man sieht ihr die pure Freude an, trotzdem steckt natürlich ein ziemlich großer Zeitaufwand hinter all dem. „Zusammen macht es aber sowieso Spaß“, sagt sie, grinst, und alle stimmen zu. Und plötzlich klingt „Buchwissenschaft“ überhaupt nicht mehr nach Staub, sondern nach Potenzial und Möglichkeiten. Und manchmal halt auch nach Gemüseladen.

Foto: Adrian Mukasa