Fette Beats, kaputte Betten

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Welche Musiker fallen in München auf? Jeden Montag stellen wir auf der Junge-Leute-Seite die „Band der Woche” vor. Zehn Bands von ihnen haben wir nun für die Wahl zur „Band des Jahres” ausgewählt – hier der Überblick.

Von Rita Argauer und Michael Bremmer

Uns entgeht so gut wie nichts. Wir schauen regelmäßig bei den Konzertbühnen dieser Stadt vorbei. Wir besuchen Proberäume und durchkämmen das Internet. Von daher wissen wir, welche Bands in München auffallen und von welchen Bands man in Zukunft garantiert hören wird – nachzulesen jeden Montag in unserer Rubrik „Band der Woche“. Ende des Jahres gehen wir immer einen Schritt weiter. Wir haben zehn Bands, die in diesem Jahr „Band der Woche“ waren, ausgewählt für die Wahl zur „Band des Jahres“. Die Abstimmung läuft bis zum 12. Januar, 12 Uhr, auf unserer Facebook-Seite. Hier die zehn Bands im Überblick:

Blackout Problems
Alternative-Rock

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Bei Blackout Problems wird die Bühne zum Abenteuer-Spielplatz. Da wird von Verstärkern gesprungen oder ins Publikum gesegelt. „Wir wollen nicht die Einzigen sein, die nach der Show schwitzen“, sagen sie – dementsprechend intensiv sind ihre Shows. Mehr als 200 Konzerte haben sie bisher in Deutschland wie im europäischen Ausland gespielt, dazu kommt eine ausgesprochen hohe Resonanz im Internet, insbesondere in den sozialen Netzwerken. Doch eine Plattenfirma für das Debüt-Album fand sich nicht. Sie haben ihr Album „Holy“ in Eigenregie herausgebracht und sind damit in die Charts gekommen. Sie klingen jetzt härter und kompromissloser, was aber nicht heißt, dass sie ihren Hang zur Melodie und zum ausschweifenden Chorus verloren hätten. Foto: Ilkay Karakurt 

Kytes
Indie-Pop

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Große Auftritte bei Festivals, Release-Show in der ausverkauften Muffathalle, Gewinn des New-Music-Awards in Berlin – und zuvor ein geheimer Gig in Obergiesing. Und all das passiert in nur wenigen Monaten. Die Kytes sind auf der Erfolgsspur – trotzdem haben sie für die Junge-Leute-Seite ein WG-Konzert gespielt. Und was zeigte sich bei dem kleinen Auftritt: Die Band braucht keine große Technik, um zu begeistern. Sie hat ein Gespür für große Songs – und auch wenn man glaubt, im Pop jede Melodie schon mal gehört zu haben, schütteln die Kytes immer wieder tolle Hooks aus dem Ärmel. Ach ja – nette Jungs sind sie zudem, auch wenn beim WG-Konzert am Ende ein Bett kaputtgeht.
Foto: Christoph Schaller

Felix Krull
Kitsch-Rap

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Eigentlich braucht Hip-Hop das Leid der Gosse, um seine Authentizität zu beweisen. In Berlin versuchten Sido und Konsorten die Ghetto-Romantik mit Aggro-Berlin zu reproduzieren. In München reagierten ein paar Spaßvögel-Rapper darauf mit Aggro-Grünwald, der Schampus-saufenden Rich-Kid-Variante der Rüpelrapper. Felix Krull hat diesen Stil nun perfektioniert. Die Musik, die er dabei macht, ist erstaunlich sanft. Die Edginess, die er sich in der Inszenierung erlaubt, fehlt seinen Beats, die ein wenig nach dem üblichen Loop-Allgemeingut klingen. Für den Erfolg hat er sich stark gewandelt: Vor sechs Jahren trat er noch mit präpotentem Männlichkeitsgehabe auf den Plan und sprach von sich selbst nur als dem „Stemmer“. Foto: Philipp Klett

The Living
Pop / Rock

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Nett? Das ist nicht unbedingt ein Attribut, das sich junge Musiker wünschen, gilt es doch, im Musikgeschäft aufzufallen. Die Musiker von The Living schauen aus, als wären sie einer deutschen Vorabendserie entsprungen. Auch auf der Bühne sucht man Exzentrik vergebens – bis sie dann einen euphorischen Hit nach dem anderen rausknallen. Zuletzt konnte man das beim Cover-Abend „Freundschaftsbänd“ beobachten – sie spielten „Kindertage“ von
Liann. Sie entschuldigten sich artig vor dem ersten Ton, erwähnten kurz, dass sie eher ein Remix als eine Coverversion einstudiert hätten, um dann aus der Pop-Poesie eine dynamische, überwältigende Electro-Nummer zu machen. Zweite Erkenntnis: Deutsche Texte stehen The Living gut. Foto: Sebastian Resch

Nick Yume
Indie-Pop

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Natürlich lebt das Musikgeschäft von solchen Erfolgsgeschichten: Junger Musiker taucht wie aus dem Nichts auf, veröffentlicht seine erste Single gleich bei einem Major-Label und wird kurz darauf eingeladen, für Rihanna im Vorprogramm zu spielen. Diese Geschichte ist wahr und ist dem Münchner Musiker Nicholas A. Gnan alias Nick Yume passiert. Was dabei oft vernachlässigt wird: Dieser Traum ist hart erarbeitet. Nick spielt in Schulbands Schlagzeug, schreibt bereits mit 13, 14 die ersten Songs. Später wird er zu Songwriter-Sessions eingeladen – dort entsteht auch die erste Single für Sony, eine Coverversion von „Allein Allein“. Aber auch seine eigenen Stücke klingen nach großem Pop – und einer großen Karriere, weil authentisch und mit einem großen Wiedererkennungswert: eine geschmeidige Soul-Stimme, im Falsett leicht brüchig, sicher in der Führung, ohne Scheu vor Drama. Foto: Keno Peer
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Lisaholic
Beatboxing/Loops/Hip-Hop

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Etwas mehr als ein halbes Jahr liegt zwischen den beiden Auftritten: Im Frühjahr spielt Lisaholic ihr erstes Konzert in der Kulturjurte. Das Publikum kauert auf dem Boden, Lisa hadert mit der Loopstation, bricht den Song ab, um ihn dann mit beißenden Beats und boshaftem Wortwitz rauszuknallen. So frech, so frisch hat sich schon lange nicht mehr eine Münchner Künstlerin präsentiert. Lisaholic ist Beatboxerin. Mittels Loop-Station vervielfacht sich die Münchnerin beliebig zu einem Duo, zu einer Hip-Hop-Produzentin samt Rapperin, zu einem DJ, der Gitarrentöne sampelt oder zum A-Cappella-Projekt. Doch Lisa besitzt nicht nur Rhythmusgefühl, sie hat einen guten Flow – und sie hat zudem wenig Interesse an Zurückhaltung, Geschlechterbildern oder vermeintlichen Pop-Trends. Genau deswegen gelingt ihr Musik, die tatsächlich neu klingt. Und die sie mittlerweile so perfekt auf die Bühne bringt, dass sie sich – ein halbes Jahr nach ihrem ersten Auftritt – beim Sound Of Munich Now als neue „Königin von Bayern“ feiern ließ. Foto: Okan Sayan
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Nalan381
Neo-R’n’B

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Will man wissen, welche neuen Pop-Trends sich in München auftun, muss man in die Kunstakademie gehen. In die „Klasse Metzel“, um genau zu sein. Hier treffen sich immer wieder Menschen, die dann neue Musik in die Stadt bringen. Nalan Karacagil und Nikolaus Graf zum Beispiel, besser bekannt als Nalan381. Sängerin Nalan setzt ihre zugänglichen Melodien dabei unaufgeregt auf einen mechanisch-geräuschlastigen Beat. Für die nötige harmonische Unterfütterung sorgen wolkige Synthie-Akkorde – eine Mischung aus Verwaschenheit und aktuellen Pop-Trends, die durchaus auch auf den großen Pop-Bühnen funktionieren kann. R ’n’ B trifft auf Elektro trifft auf exotische Rhythmik – für die heutzutage nötige Uneindeutigkeit sorgt eine verhangene Soundästhetik, die viele Assoziationen zulässt. Alles sehr geheimnisvoll, alles durchaus erotisch, weswegen der Radiosender Puls fabuliert: „Sie sind gekommen, um München ein bisschen mehr Sex einzuhauchen.“ Foto: Rosanna Graf
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Claire Jul
Electro-Soul

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Drei Monate sind im Musikgeschäft nichts. Und doch kann sich ein Künstler in dieser Zeit komplett neu erfinden. Claire Jul zum Beispiel. Es gibt ein Video von ihr, aufgenommen bei „Sofar Munich“ am 17. April dieses Jahres: Holy, eine klassisches Singer-Songwriter-Stück. Tolle Stimme, „überwältigend“, so die Reaktionen bei Youtube, irgendwie aber auch erwartbar. Was die Zuhörer dieser Live-Session nicht ahnen: Claire Jul müsste da schon längst an ihrer neuen musikalischen Identität gearbeitet haben, Ende Juli erscheint ihr erstes Video mit neuem Sound: Amy Winehouse trifft auf Gorillaz trifft auf Beats. Elektronische Schichten schmiegen sich über soulige Beats: euphorisch-durchgeknallte Up-Temp-Nummern mit einer Stimme, so herausfordernd, so lustvoll. Mittlerweile gibt es bereits erste Remixe – als Tech-House. Foto: Alessandra Schellnegger
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Friends Of Gas
Neo-Postpunk

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Sechs Stunden dauert eine Bahnfahrt von München nach Berlin. Ein Jahr lang dauert es, bis eine Münchner Band in der Hauptstadt ankommt. Bereits im November 2015, beim Festival „Sound Of Munich Now“, reagierte das Publikum ekstatisch. Ein Jahr später schreibt die taz: „Was für eine Wucht. Was für ein Debütalbum. Es mag ja Berliner Arroganz sein, aber ich kann überhaupt nicht begreifen, wie eine Band wie Friends Of Gas aus München kommen kann.“ Schieben wir es auf die Berliner Selbstgefälligkeit, auch oder gerade München hat Anrecht auf Lärm. Diese neue, bisweilen recht destruktive Ernsthaftigkeit kommt an in Pop-Deutschland. Foto: Susanne Beck
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PourElise
Akustik-Pop

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Henny Gröblehner steht vor der Bühne und lächelt glücklich. Auf der Bühne beim Coverabend „Freundschaftsbänd“ zerlegt gerade Elektrik Kezy Mezy ihren Song „L’Éléfant“. Härtetest bestanden, denn auch als Noise-Nummer verliert der Song nichts an seiner Schönheit. Das liegt daran, dass Henny alias PourElise das Zerbrechliche an ihrer Musik mit einer gewissen Hipness angereichert hat. Früher machte sie die perfekte Musik „für lauschige Abende im durchgeheizten Wohnzimmer“, schrieb Puls. Kuscheln kann man immer noch, aber jetzt kann das auch in der dunklen Ecke eines angesagten Clubs sein. Foto: Pierre Jarawan

Foto (oben): Conny Mirbach