„Ich wusste: Wir sind bei einem richtig krassen Moment dabei“, sagt Kokutekeleza Musebeni. Beste Voraussetzungen für den Dokumentarfilm, den sie mit ihrer Kommilitonin Anna Zhukovets gedreht hat.  Foto: Katharina Thaler

Blick nach vorne

Die Studentinnen Kokutekeleza Musebeni und Anna Zhukovets haben einen Film über Rassismus gedreht. Sie sprachen dafür mit afrodeutschen Frauen, besuchten Demos – und versetzten sich ins Jahr 2440

Sie hatten ja keine Ahnung, wie groß das wird. Erst als sich Kokutekeleza Musebeni, die alle nur Koku nennen, und Anna Zhukovets im Juni des vergangenen Jahres auf den Weg zum Königsplatz machten, merkten sie, wie viele Menschen es ihnen gleichtaten. „Am Hauptbahnhof klopfte mein Herz schon immer mehr: Oh mein Gott, es sind so viele“, sagt Koku heute. „Ich wusste: Wir sind bei einem richtig krassen Moment dabei.“ Es war der 6. Juni 2020, wenige Tage zuvor wurde der Afroamerikaner George Floyd von Derek Chauvin getötet, einem weißen Polizisten. Auf dem Königsplatz demonstrierten 25 000 Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt. Angemeldet waren 200 Teilnehmer. Diese Demo war groß – und Anna und Koku waren dabei. Einer ihrer Kameramänner filmte das Geschehen aus unmittelbarer Nähe zur Bühne, filmte, wie die Menschen acht Minuten und 46 Sekunden schwiegen. In Gedenken an George Floyd.

Anna und Koku studieren an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik. In den vergangenen zwei Jahren haben sie zusammen mit einem Team an Studierenden, alle zwischen Anfang 20 und Anfang 30, die hybride Doku „The Door of Return“ realisiert. Hybrid, weil sie dokumentarfilmerische und ausgedachte, in der Zukunft spielende Szenen vereinen. Einerseits: die Geschichte einer schwarzen Frau aus dem Jahr 2440, die in die Vergangenheit reisen soll, um zu verstehen, wer sie ist. Andererseits: Interviews mit Aktivistinnen über das Schwarzsein in Deutschland und eine Betrachtung des Rassismus anhand des N-Worts. Im Juli läuft der Film in Cannes, im Katalog „New German Short Films“.

An einem kalten Tag am Anfang des Jahres sitzen Anna und Koku in Seminarräumen in der HFF und sprechen per Videotelefonat über ihren Film, der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht fertig ist. Koku, groß gewachsen, dunkelgrünes Hemd und lange schwarze Haare, erscheint in der einen Kachel. In der Kachel daneben taucht Anna auf, kurze Haare, beiger Pulli. Kommen die beiden ins Reden, dann beschleicht einen das Gefühl, sie könnten stundenlang über jedes Detail sprechen. Im Gespräch mit dabei sind die, die maßgeblich bei der Umsetzung des Films halfen: die beiden Kameramänner Florian „Flo“ Berwanger und Louis Dickhaut sowie die Produzentin Katharina Kolleczek, die gemeinsam mit Lea Neu eine Produktionsfirma „kalekone film“ betreibt.

Das Thema, das ihr Film behandelt, ist seit dem vergangenen Jahr vielleicht so präsent wie nie zuvor. Anna und Koku wollten eine Situation, einen Status quo beschreiben. Doch während sie drehten und dokumentierten, begann sich die Gesellschaft ruckartig zu verschieben. Das, was sie beschreiben wollten, wankte. Anna sagt: „Durch diesen Film haben wir Zeitgeschichte dokumentiert und geschrieben.“

Der Film entführt einen aber erst einmal in eine Zeit, in der unsere Gegenwart und – allen Dingen voran – der Rassismus Vergangenheit sind. Es ist das Jahr 2440 und wir beobachten zwei junge schwarze Frauen. Die beiden stehen vor einer hellen Leinwand und schauen auf kreisförmige schwarz-weiße Muster, auf rotierende Nullen und Einsen und Bilder aus 2020, dem Jahr, in das die Jüngere zurückreisen soll. Der Gedanke bereitet ihr Unbehagen, fast schon Angst.

Das ist die Ausgangslage von „The Door of Return“ – zumindest die des fiktionalen Teils. Denn die Startpunkte zu dem Projekt liegen nicht in Gedankenspielen über die ferne Zukunft, sondern überall in Deutschland verteilt, in schwarzen Communitys und bei Aktivistinnen.

Die ersten Ideen zum Film kamen Anna und Koku bereits 2019. Damals fiel ein AfD-Landespolitiker aus Mecklenburg-Vorpommern dadurch auf, dass er im Landtag wiederholt das N-Wort benutzte. Er bekam zwar einen Ordnungsruf, aber ein Gericht entschied später: zu Unrecht. Vielerorts gab es Protest. Die beiden Filmemacherinnen wurden auf die Demos aufmerksam. Sie nahmen Kontakt auf zu den Organisatorinnen, begleiteten Charlotte Nzimiro, die eine Petition initiierte, durch die rechtlich anerkannt werden soll, dass das N-Wort rassistisch ist. Im Film kommen nur Frauen vor. Koku sagt: „Ich habe jetzt schon so viele Männer gesehen in Filmen. Ich finde es einfach mal gut, wenn nur Frauen in Filmen sind.“

Für den Film besuchen die Filmemacherinnen das May-Ayim-Ufer in Berlin, benannt nach der verstorbenen schwarzen Aktivistin, Pädagogin und Dichterin. In langen Interviews sprechen sie mit afrodeutschen Intellektuellen wie Natasha A. Kelly, Katharina Oguntoye und Alice Hasters. Die Gespräche sind oft sehr persönlich: Die meisten Frauen erzählen, was das N-Wort mit ihnen macht. Einige bringt das den Tränen nahe.

Als ihre Interviewpartnerinnen von Rassismus sprachen, bemerkte Koku, wie sehr sich ihre eigenen Erfahrungen mit dem Geschilderten glichen

Für die beiden Filmemacherinnen waren es keine leichten Gespräche. Koku sagt: „Ich habe das Interview mit Alice Hasters geführt, aber in dem Moment, wo ich ihr die Frage zu dem N-Wort gestellt habe, war es, als hätte ich einen Teil in mir abgeschaltet.“ Jedes Mal, wenn sie die Szene nachschaue, weine sie. Eine andere Szene aus dem Film gleicht sich nahezu mit ihren eigenen Erlebnissen: Charlotte Nzimiro erzählt, wie man ihre Leistung bei einem Leichtathletik-Wettbewerb nicht anerkennen wollte und ihr jemand ins Gesicht sagte, dass ihr Schwarzsein der Grund sei. „Ich kenne das aus meiner Kindheit“, sagt Koku, auch wenn es bei ihr nicht Leichtathletik, sondern Kunstturnen war. „Für mich war es interessant zu sehen, dass viele Geschichten, die da passieren, deckungsgleich sind mit meinen Erfahrungen. Das hat mir Kraft gegeben, dass ich da nicht allein durchmuss.“

Während der Arbeit am Film wurden Anna und Koku zu Freundinnen. Koku spricht im Scherz von einer „Ehe“. Dabei landeten die beiden auf ganz unterschiedlichen Wegen an der Hochschule für Fernsehen und Film. Anna kam mit ihren Eltern 2002 als Kontingentgeflüchtete nach Deutschland. Sie kamen aus Mariupol, einer Stadt im Osten der Ukraine. Anna war damals fünf Jahre alt. Nach dem Abitur ging sie nach Paris, wo sie als Fotografin arbeitete und beim Fernsehsender Arte arbeite. Immer auf der Suche nach einer „Kunstform, die alle Kunstformen vereint“. In der Dokumentarfilmregie fand sie etwas, das diesem Ideal möglichst nahekommt. Für Koku hingegen war schon als Kind klar, dass sie an die HFF wollte, sagt sie. Lang habe sie sich nicht getraut, sich zu bewerben. Schon ihr Vater studierte dort.

„Wir haben uns immer gefragt: Was verbindet uns als Menschen, als Filmemacherinnen?“, sagt Anna. „Die Verbindungspunkte, die wir haben, sind, dass wir beide in unterschiedlicher Weise von Diskriminierung betroffen sind.“ Für Anna war die Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus damit verbunden, sich mit der eigenen Identität zu beschäftigen. Mit der antisemitischen und antislawischen Diskriminierung, die sie erlebt hat. „Dokumentarfilm ist eben oft persönliche Aufarbeitung, in unserem Fall: eine gemeinsame Aufarbeitung“, sagt Anna.

„The Door of Return“ zeigt Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen auf – und bedient sich dabei eines Kniffs: Indem die fiktionalen Teile der Doku in der Zukunft spielen, herrscht eine große Distanz zur Gegenwart. „Wir brauchten einen Twist, um weißen Menschen den Spiegel vorzuhalten und ihnen zu zeigen, wie absurd Rassismus ist“, sagt Koku. Zudem stellt sich der Film in die Tradition des Afrofuturismus, einem Genre, in dem von der Perspektive von Schwarzen aus auf die Welt, insbesondere auf die Zukunft, geschaut wird. Anna sagt: „Es ist wichtig zu begreifen, dass unser Film kein Science-Fiction-Film ist, kein eurozentrischer Film, sondern ein Film, der auf den Narrationen von Afrofuturismus fundiert ist. Schwarze Menschen handeln und es steht die Frage im Raum: Wie leben Schwarze in einer Zukunft frei von Rassismus?“

Die Kameramänner fragten: Dürfen wir als Weiße einen Film über Diskriminierung drehen?

Die Kamera hielten zwei Weiße: Flo und Louis. Zuerst waren beide unsicher und fragten sich: Dürfen wir das überhaupt? Als weiße Menschen einen Film über Rassismus drehen? Die Kamera draufhalten, wenn schwarze Menschen sich auf eine Demonstration vorbereiten, die für sie längst überfällig war, da „fühlt man sich wie ein Fremdkörper“, sagt Flo. Koku und Anna sprachen den beiden Kameramännern Mut zu. Auf der großen Demo am Königsplatz war Louis mit dabei und filmte in die Menge. Er sagt: „Es war ein sehr krasser Moment, als ich da vorne stand, vor dieser kompletten Königsplatz-Demo, und alle gekniet und geschwiegen haben in diesen acht Minuten.“

Ein Film wie dieser ist ein Gemeinschaftswerk. Manchmal klappt das ganz gut, manchmal überhaupt nicht. Koku sagt: „Ich arbeite, seitdem ich 20 bin, als Musikerin und habe viele Bands gehabt. Nach diesem Film kann ich sagen: Wenn sich da ein Teammitglied querstellt, funktioniert das Ganze nicht.“ Louis spricht von einer „tiefen freundschaftlichen Ebene“, untereinander haben sie Insider-Witze, etwa, dass sie beim Dreh wegen der Corona-Pandemie auf Haze, künstlichen Dunst, verzichten mussten. Wegen der Aerosole, versteht sich.

Der Film ist – so traurig manche Szenen sein mögen – auch hoffnungsvoll. Denn er zeigt zweierlei: erstens, dass es einen Zusammenhalt in der afrodeutschen Community gibt und viele Interviewpartnerinnen gerne bei dem Film mitgemacht haben, weil auch sie denken, dass das Thema wichtig ist. „Es ist schön zu sehen, wie wir als schwarze Community in den letzten zwei Jahren immer mehr Sichtbarkeit bekommen haben. Und wie gut vernetzt wir sind“, sagt Koku. Zweitens, dass sich Menschen über eine bessere Zukunft Gedanken machen.

In einer Szene gegen Ende des Films lesen die interviewten Aktivistinnen Briefe vor, die an die Zukunft gerichtet sind, an Menschen im Jahr 2440. Was würden die Filmemacherinnen in einen solchen Brief schreiben? Koku sagt: „Macht es besser.“

Von Max Fluder