Tiefkühlpizza zum Frühstück

Bei Krause zu Hause: Die Anonymität der Großstadt ist für niemanden faszinierender als für Menschen, die in der Provinz aufgewachsen sind. Oder: Nur Menschen vom Land sind so naiv, sich davon Positives zu erwarten.

Mamas stecken mit der Föhn-Lobby unter einer Decke: Für beide sind nasse Haare das Übel schlechthin. Gemeinsam erhalten sie den Mythos, dass Erkältungsviren nicht etwa über die Atemwege oder Schleimhäute, sondern bei kaltem Wetter über nasse Haarspitzen in den Körper gelangen. Zum Glück sieht Mama nicht, dass ich mit nassen Haaren Semmeln holen gehe.

Dafür meckert die Bäckereiverkäuferin, ich solle nicht mit feuchten Haaren nach draußen. Davon bekomme ich – nein, keine Erkältung, sondern: Kopfschmerzen. Nicht sofort, aber so in zehn Jahren. Wie man über eine so lange Zeitspanne ausmachen kann, dass meine Kopfschmerzen gerade auf diesen Samstagmorgen zurückzuführen sind, ist mir schleierhaft. Ich lächle nett, während mir die Verkäuferin erläutert, warum junge Menschen nie auf gute Ratschläge hören. Und ich naives Ding vom Dorf habe einmal geglaubt, dass mich, sobald ich von daheim aus- und in die Stadt gezogen bin, niemand mehr belehrt, ich solle nicht mit nassen Haaren ins Freie gehen.

Wenigstens kann die Verkäuferin es nicht meiner Mutter stecken – das wäre auf dem Dorf längst passiert. Warum auch sonst sollte es uns Landkinder irgendwann in die Stadt getrieben haben, wenn nicht für die Freiheit, dienstags am Nachmittag in Badelatschen zum Supermarkt an der Ecke zu schlurfen, um Tiefkühlpizza und Red Bull zum Frühstück zu kaufen – und das völlig unbehelligt von der Föhn-Lobby! Die Anonymität der Großstadt ist für niemanden faszinierender als für Menschen, die in der Provinz aufgewachsen sind. Während ich auch nach jahrelanger Abwesenheit im Dorfladen meiner Heimat dazu aufgefordert werde, mir etwas aus den Süßigkeitengläsern auszusuchen – und das mit Mitte zwanzig! –, ignoriert der übellaunige Besitzer des Pizzaservices unter meiner Wohnung in Giesing meinen Stammkunden-Status rigoros. So rigoros, dass ich mir einreden kann, so oft husche ich doch gar nicht im Schlafanzug nach unten, um mir überteuerte Erdnussflips zu kaufen. Über nasse Haare schimpft er übrigens nie. Ein wenig einsam fühle ich mich ja da schon. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es nicht lange, bis man sich plötzlich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“. Weitere Kolumnen gibt es hier.

Suche Zimmer, keine Liebe

Nein, man ist kein schlechter Mensch, wenn man Leute, die man zum ersten Mal sieht, ihren Namen tanzen lässt. Ist doch deren Schuld – sie wollen schließlich das WG-Zimmer haben…

Selbstpräsentation ist alles. Das gilt für Vorstellungsgespräche. Das gilt für Flirtversuche und erste Dates. In München gilt dieser Slogan jedoch insbesondere für die Beschaffung von Wohnraum. Denn Singles und Jobs gibt es hier ja quasi im Überfluss – Zimmer, in die man diese Singles nach Feierabend auf einen Kaffee einladen könnte, sind jedoch rar.

Zu allem Überfluss ist es viel schwieriger, sich als idealer Mitbewohner zu präsentieren, als den perfekten Bewerber für Büro, Beziehung oder Bettgeschichte zu geben. Denn die Ansprüche an den Lover, Liebsten oder Lohnbuchhalter sind meist sehr viel klarer umrissen. Als Mitbewohner hingegen muss man oft recht widersprüchliche Eigenschaften vereinen: ein locker-cooler Typ sein, der sich strikt an den Putzplan hält, etwa. Oder eine partyfreudige Wochenendheimfahrerin, die eine Waschmaschine in die Wohnung mitbringt. Klar ist eigentlich nur eins: Dass man als Mitbewohner unkompliziert sein muss. Da steht man dann also in einer fremden Küche, lächelt nett und versucht möglichst unkompliziert zu wirken, um bald ein Fach in diesem Kühlschrank zu ergattern – aber auch nicht so unkompliziert, dass sich nach Abzug des zwanzigsten Interessenten überhaupt niemand mehr an einen erinnert. Eigentlich ziemlich hoffnungslos.

Viele Menschen, die Zimmer vergeben, haben deshalb schnell erkannt, dass Besichtigungen und WG-Castings kaum dazu taugen, den idealen Mitbewohner ausfindig zu machen und sie zu reinen Spaßveranstaltungen erklärt. Warum sonst sollte etwa Anne auf einer Besichtigung ein Selbstporträt anfertigen, wenn nicht, damit ihre potenziellen neuen Mitbewohner endlich all die Allmachtsfantasien ausleben konnten, für die sie bisher nie das passende Druckmittel hatten. Nach all den frustrierenden Stunden, die man als Münchner bereits auf Wohnungsbörsen und WG-Besichtigungen verbracht hat, ist eigentlich das Einzige, was zumindest im Nachhinein ein wenig Genugtuung verschafft, einmal im Leben selbst Horden verzweifelter Wohnungssuchender dazu anzustiften, Bier zur Besichtigung mitzubringen und sie dann ihren Namen tanzen zu lassen. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es nicht lange, bis man sich plötzlich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“. Weitere Kolumnen gibt es im Internet unter der Adresse http://jungeleute.sueddeutsche.de/tagged/ Bei-Krause-zu-Hause

Fürs Leben verlernen wir

Wie war das gleich mit der Zellteilung? Und dem Subjonctif? Wenn die minderjährigen Erstsemester in die Hörsäle strömen, merkt so mancher Mittzwanziger, wie viel er schon vergessen hat.

Nach dem Abitur sagte ein Lehrer zu Johannes, jetzt habe er die höchste Allgemeinbildung. Von nun an gehe es nur mehr bergab. Klingt völlig absurd. Wozu dann all die Mühe? Wozu noch ein Studium? Und doch: Es stellt sich als wahr heraus. Das Leben und vor allem das Studium lehrt uns zwar viel, der französische Subjonctif, das Schalenmodell des Atoms und die sechs Phasen der Zellteilung sind jedoch bald so passé, dass es als Leistung zählen kann, sich überhaupt noch zu erinnern, dass man dieses Wissen einst besessen hat. Die Sehnsucht, wie einfach in der Schule doch alles war, stammt also daher, dass nach profunder Lernstoff-Amnesie Erinnerungen an eine Zeit bleiben, in der man Freistunden mit Süßigkeiten am Kickertisch verbracht hat.

So wohlwollend Mittzwanziger sich ihre eigene Schulzeit ausmalen, so unbarmherzig trifft es die nachfolgende Schülergeneration. Sie ist uns unheimlich. Da wären diese minderjährigen Erstsemester an unseren Unis, die uns – G8 sei Dank – bereits bei Studienbeginn eine wichtige Erfahrung der Arbeitswelt voraus haben: das erste Burnout. Und dann sind da noch diese Schwärme von Kindern, die – obwohl sie uns nur bis zum Bauch gehen –, bessere Smartphones haben als wir. Ein bisschen Mitleid schwingt mit: Sie haben nie „Räuber und Gendarm“ im Innenhof gespielt wie wir einst (also, wenn wir wieder Fernseh- und Game-Boy-Verbot hatten). Wahrscheinlich überwiegt jedoch der Neid, dass sie mit ihren kleinen Fingern Touchpads viel effektiver bedienen können und noch nicht vergessen haben, welche Tiere Winterschlaf halten.

Als ich letztens beim Deutschen Museum in eine Wandertagshorde gerate, fragt mich ein blonder Junge, was ich am Samstagabend vorhabe. Warum? Er würde gern mit mir essen gehen. Sein Freund – er deutet nach rechts – sei zwar schwul, er aber noch frei. Zugegeben: Vom Interesse jüngerer Männer fühle ich mich geschmeichelt. Solange sie noch nicht ausgewachsen sind, erkundige ich mich aber nach dem Alter. Er ist elf. „Frag mich in zehn Jahren noch mal“, rufe ich ihm zum Abschied zu. Zu spät fällt mir ein, welche Chance ich mir damit verbaut habe: in sieben Jahren endlich mal wieder mit einem Mann mit bester Allgemeinbildung auszugehen. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.

Geschirr spülen 2.0

Könnten schon bald Roboter die Weltherrschaft an sich reißen? Etwas dubios ist er jedenfalls, der Staubsaugroboter von Johannes und Verena.

Das goldene Zeitalter des Buchdrucks neigt sich dem Ende zu. Wenn das Gutenberg wüsste: In meinem Freundeskreis sind Verena und Johannes die einzigen, die noch gedruckte Lexika verwenden – aber auch nur, weil die Online-Version nicht dazu taugt, sie unter die Sofa-Beine zu schieben. Warum das gesammelte Wissen der Menschheit unter ihren Couch-Füßen lagert? „Weil der Staubsaugroboter sonst nicht unters Sofa passt“, erklärt Johannes.

Für mich hat ein Staubsaugroboter mehr etwas von einem Zwergpinscher als von einem Haushaltsgerät: Er dackelt planlos durch die Wohnung, hinterlässt dabei schon mal Dreck in den Ecken und muss regelmäßig entleert werden. Klar, Besen sind in etwa so old school wie der Brockhaus in Leinen, aber bis jetzt haben sie meine Wohnungen noch immer recht sauber gehalten. Wenn es nach meinem Mitbewohner ginge, hätten wir jedoch einen Haushaltsroboter. Nicht nur zum Saugen, sondern auch zum Entkalken von Armaturen und zum Fensterputzen. Fürs Erste ist Sören aber auch damit zufrieden, wenn ich das übernehme. Während ich das Geschirr spüle, führt er mit Max am Küchentisch Debatten über Roboter. Genauer gesagt über Baxter. Baxter kostet nicht viel mehr als ein Mittelklassewagen und lässt sich ohne große Programmierkenntnisse darauf abrichten, einfache Fließbandarbeiten zu verrichten – oder „Vier gewinnt“ zu spielen. Ob er auch den Abwasch erledigen könnte, frage ich von der Spüle. Die Roboterfraktion am Tisch schüttelt den Kopf. Nein, viel zu kompliziert. Max zeigt mir Videos, auf denen Baxter Kaffee kocht und T-Shirts faltet. Für jemanden, der Fließbandarbeit verrichten soll, ist der Roboter ziemlich lahm.

Da wir jedoch gerade noch darüber philosophiert haben, wie viel passiert ist, seit wir pixelige Spiele auf backsteinförmigen Handys für den letzten Schrei hielten, wirkt es gar nicht besonders utopisch, dass bald Androiden unsere Tassen spülen. Sören ist sogar überzeugt, dass sich Roboter in naher Zukunft darauf so sehr weiterentwickeln, dass sie die Menschheit als unnötige Dreckverursacher entlarven und bekämpfen. Klingt gruselig, aber immerhin: So hoch entwickelte Wesen leiten vielleicht – nachdem sie uns aus unseren Wohnungen vertrieben haben – endlich eine Renaissance des Buches ein. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.

Striptease für 90 Euro

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Mietminderung, Striptease, kein Internet, Mieterhöhung. Es ist schon so eine Sache mit den Renovierungen.

Zuerst war da das Geld: Neunzig Euro weniger Miete im Monat müsse ich ihm in den nächsten drei Monaten zahlen, erklärt mir mein Mitbewohner – Mietminderung wegen der Renovierungen am Haus. Mein erster Gedanke: Yeah, mit neunzig Euro mehr im Monat kann man ziemlich viel Schokolade, Cocktails und Kinobesuche finanzieren. Und ich bin eh den ganzen Tag unterwegs, was stört da das bisschen Baustelle. Als ich am nächsten Morgen nur in Unterwäsche meinen Vorhang aufziehe, um auf das Thermometer an meinem Balkon zu schauen, zucke ich zusammen: Ich bin nicht allein. Das Gerüst ist bereits so weit hochgezogen, dass die Bauarbeiter auf Höhe meiner Fenster stehen. Ich ziehe den Vorhang schnell wieder zu. Aber okay: Neunzig Euro für zwei Sekunden strippen ist ja ein faires Preis-Leistungsverhältnis.

Sören kann über all das noch gut lachen – sein Fenster ist nach hinten raus, da passiert noch nicht viel. All das ändert sich an dem Abend, als ich im Treppenhaus den Zettel mit der Aufschrift „Wir stellen morgen mal kurz das Licht im Hausflur ab“ nur mithilfe meiner Handybeleuchtung lesen kann. Als ich schließlich im Dunkeln den Schlüssel in die Wohnungstür gefriemelt habe, empfängt mich mein Mitbewohner mit der Nachricht, dass die Bauarbeiter nicht nur das Licht im Treppenhaus, sondern auch das Internet lahmgelegt haben. Sören nennt sie übrigens nicht „Bauarbeiter“, er benutzt Namen, die man an dieser Stelle nicht drucken kann. Ohne Internet ist Sören nur noch ein Drittel Mensch und verliert außerdem stündlich Geld, weil er nicht an seinen Internetfirmen basteln kann. Das Gegenteil von meinem 90-Euro-Strip also.

Sören fährt zum Internetanschluss seiner Eltern, während ich mit einem Kochlöffel meinen Rosmarin in Sörens Sektkühler umtopfe – mein Balkonkasten muss laut Baugesellschaft plötzlich ganz dringend verschwinden. Neunzig Euro wirken plötzlich gar nicht mehr wie viel Schokolade, Cocktails und Kinobesuche. Vor allem weil wir ahnen: Sobald die Bauarbeiter unser Haus fertig demoliert, äh, renoviert haben, wird das als Anlass für eine Mieterhöhung genommen. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.

Vertraute Töne

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Dudelsack, Trompete oder Klavier: In der Stadt erfährt man von seinen Nachbarn oft nur, wann sie worauf welche Lieder erklingen lassen. 

Der Inhaber der Dönerbude unter Rosalis Wohnung ist neidisch. Wenn das Dudelsackgedudel beginnt, kann Rosali sich ihre Doktorarbeit unter den Arm klemmen und damit in die Staatsbibliothek umziehen. Er selbst kann leider nicht seinen Dönerspieß schnappen und ihr folgen. Er ist den Musikübungen des Nachbars hilflos ausgeliefert.

In der Stadt weiß man für gewöhnlich nicht viel von seinen Nachbarn, aber man weiß, welche Instrumente sie spielen – leider meist erst nachdem man eingezogen ist. Ich selbst habe Glück: Über mir spielt nur jemand sehr professionell Klavier. Max’ Wohnheimnachbar hingegen übt nicht ganz so versiert Marschlieder auf seiner Trompete – und das bevorzugt am frühen Morgen oder späten Abend. Blasinstrumente sind sowieso besonders gefährlich. Ich werde nie verstehen, warum man Grundschulkinder massenweise Blockflöte lernen lässt – das einzige Instrument, das nicht mal dann gut klingt, wenn man es auch wirklich spielen kann.

Wie gesagt: In der Stadt erfährt man von seinen Nachbarn oft nur, wann sie worauf welche Lieder erklingen lassen. Trotzdem hat man bald das Gefühl, sehr viel mehr über diese Menschen zu wissen. Das beginnt beim Geschlecht: Max und Rosali sprechen im Bezug auf die Dudelsack- und Trompetenklänge immer unmissverständlich von ihrem Nachbarn im Maskulin, ich hingegen habe – gar nicht mal bewusst – beschlossen: Die melancholischen Klavierstücke von oben stammen von einer jungen Frau. Inzwischen bilde ich mir ein, ihr Lieblingslied zu kennen und Rückschlüsse auf ihre Stimmung ziehen zu können. Eigentlich sind wir fast schon alte Freundinnen.

Und dann kommt der Putzlappen. Oh, dieser wundervolle Putzlappen, der aus ihrer Wohnung segelt und auf dem Fensterbrett meines Mitbewohners landet – endlich ein Anlass zum Klingeln! Die Rückkehr meines Mitbewohners bringt jedoch die Ernüchterung. Ein Mann habe aufgemacht, sagt er, sehe ein bisschen aus wie ein Rocker. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.

Videospielbösewicht (m/w) gesucht

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Judith müsste eigentlich Bewerbungen schreiben, aber leider ist das mit den beruflichen Zielen nicht mehr ganz so einfach wie in den Grundschul-Freundebüchern.

Judith müsste eigentlich Bewerbungen schreiben – Erwachsenenkram. Stattdessen sitzen wir mit einer Flasche Wein vor meinem Fernseher und zocken uns durch meine Sammlung von Videospielen der Neunzigerjahre. Die Neunziger wirken dabei plötzlich wie ein goldenes Zeitalter, in dem Berufswünsche wunderbar vage bleiben durften, uns pixelige Grafik in Staunen versetzte und überhaupt nichts verdächtig erschien an einem italienischen Klempner, der vollgedröhnt mit bunten Pilzen den Kampf gegen eine boshafte Riesenschildkröte aufnimmt.

Heute müssen Wunschträume gegen konkrete Pläne eingetauscht werden und die Frage „Was will ich werden“ taucht auch abseits von Grundschul-Freundebüchern auf. Als wir damals in Schreibschrift unsere beruflichen Ziele unter unsere Lieblingsfarbe und das Lieblingsessen auf die Zeilen krakelten, wirkte das alles noch sehr viel einfacher. Hilfreich war sicher, dass Achtjährige im Schnitt nur rund 15 verschiedene Berufe kennen: Astronaut, Krankenschwester, Fußballprofi – ja. Head of Global Supply Chain Management – eher nein.

Wenn es dann wirklich ernst wird, erscheint die Auswahl allerdings riesig. Das liegt vielleicht auch an der allgemeinen Verwirrung: Man ertappt sich plötzlich dabei, nicht nur bei allen möglichen Berufen zu überlegen, wie der Arbeitsalltag wohl so aussehen mag, sondern auch bei den absolut Unmöglichsten. Während ich mit meinem Schwert auf einen pixeligen Gegner einkloppe, frage ich mich, wie viele Wochenstunden man mit der Weltvernichtung wohl beschäftigt ist. Es dauert peinlich lange, bis mir auffällt, dass der Satz „Videospielbösewicht (m/w) gesucht“ nie in Stellenanzeigen auftaucht.

Vielleicht hat Judith deshalb noch nicht mit der Suche begonnen. Schon im ersten Semester hat sie angekündigt, ihre Fächerkombi qualifiziere sie in erster Linie zur Sektenführerin. Noch so eine Stelle, die selten ausgeschrieben wird – und noch viel seltener in Grundschul-Freundebüchern auftaucht. Immerhin kann man uns einen Erfolg nicht nehmen: Wenn unsere Grundschul-Ichs wüssten, dass wir jetzt so lange aufbleiben dürfen, wie wir wollen, um Chips zu futtern und Videospiele zu spielen, wären sie ziemlich stolz auf uns. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.

Gerangel um das Pin-up-Girl

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Das Zusammenleben ist nicht immer einfach – ausgesteckte elektrische Zahnbürsten oder Pin-up-Girl-Poster am Kühlschrank können auch schon mal zum Dauerstreitpunkt werden, solange keiner nachgibt.

Die Welt – widewidewitt – als Wunschkonzert klang damals bei Pippi Langstrumpf noch verblüffend einfach. Im Laufe des Erwachsenwerdens zeigt sich jedoch: Das Weltgeschehen in die Hand zu nehmen, ist in etwa so schwierig, wie die Eltern davon zu überzeugen, man brauche dringend ein zahmes Äffchen als Haustier. Es ist schließlich schon schwer genug, seine Weltvorstellungen in der eigenen Villa Kunterbunt zu verteidigen.

Da wäre etwa Julias Poster: Ein Pin-up-Girl in einer Fünfzigerjahre-Waschküche. Das schmückt ihren Kühlschrank – zumindest immer dann, wenn ihre französische Mitbewohnerin das Bild nicht gerade abgehängt hat. In der Welt der Mitbewohnerin hängen keine nackten Frauen am Kühlschrank, wenn sie Herrenbesuch empfängt. Sobald dieser wieder von dannen gezogen ist, stellt Julia, widewidewitt, ihre Welt wieder her. Allerdings nie für lange, ehe das Spiel von vorn beginnt. Und sowieso: Julias Weltbild der Französin als sexuell befreite Frau ist unwiderruflich längst futsch.

Auch Lukas ficht einen stummen Kampf in seiner Wohnung aus. Eigentlich sind er und sein Mitbewohner sich in allem einig. Sie leben in einer harmonischen Männer-WG ganz ohne Reibereien. Wäre da nicht Lukas’ Zahnbürste. Im Grunde ist an ihr nichts Verwerfliches: Sie steht im Bad auf seiner Seite der Ablage und steckt in seiner Steckdose, um den altersschwachen Akku geladen zu halten. Wie Julias Pin-Up-Poster hält sie jedoch niemals lang die Position. Egal, wie oft er sie einsteckt: Wenn Lukas von der Uni heimkommt, ist seine Steckdose leer. Warum? Das kann er nicht sagen. Harmonische Männer-WGs haben deswegen keine Reibereien, weil man so etwas einfach nicht anspricht. Stattdessen setzt Lukas lieber zu einem stummen Gegenschlag an und steckt die elektrische Zahnbürste seines Mitbewohners ein. Man verändert die Welt eben in kleinen Schritten.

Pippi Langstrumpf sänge übrigens ganz sicher ein anderes Lied, wenn sie nicht allein in ihrer Villa Kunterbunt leben würde. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.

Ruhe ist relativ

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Manas aus Delhi ist zum ersten Mal in München und wieder bestätigt sich: München ist eigentlich ein Dorf. Umgekehrt fühlen sich all die bayerischen Landkinder hier plötzlich großstädtisch.

München ist bekanntlich ein Dorf. Das fällt besonders Menschen auf, die – im Gegensatz zu München – aus einer Großstadt kommen. Etwa der jungen Frau aus Berlin, die sich ganz entzückt zeigt, welche ruhige Ecken es hier doch gibt. Das Kompliment gilt allerdings nicht dem alten Südfriedhof oder den Schwabinger Seitengässchen, sondern fällt mitten auf der Fraunhoferstraße. Ruhe ist relativ. Noch so ein ruhiges Örtchen: der Marienplatz. Menschenleer. Findet zumindest Manas. Auch dass er vom Alten Peter aus bis an den Rand der Stadt sehen kann, verwirrt den jungen Mann. Wen die erste Fernreise von Delhi nach München führt, der hat wohl wirklich eher das Gefühl, einen Ausflug aufs Land zu unternehmen.

Umgekehrt fühlen sich all die bayerischen Landkinder hier plötzlich großstädtisch. Bevor sie fürs Studium hergezogen sind, kannten sie von der Stadt nur den Marienplatz (so viele Menschen!!!), von dem aus der Familienverband zweimal im Jahr zu einer Shopping-Tour in Richtung Stachus aufbrach. Oft erfolgt erst nach dem Umzug die Entdeckung, dass es ein München jenseits von Stachus und Marienplatz gibt – München also sogar noch größer ist als erwartet. In punkto Ortskenntnis unterscheiden sich zugezogene Speckgürtelkinder bisweilen nur minimal von Touristen – auch wenn sie wohl niemals die amerikanische Familie toppen, die eine Rhein-Kreuzfahrt von München nach Neuschwanstein buchen wollte.

Tourist Manas war zwar bereits in Neuschwanstein (wenn auch nicht per Kreuzfahrt), aber weder an der Isar noch im Englischen Garten. Geht gar nicht, finde ich. Als zugereistes Landkind sind das für mich natürlich die Zentren Münchens. Hier kommt meine soziale Prägung durch: Freiluftbesäufnisse machen die Essenz einer Dorfjugend aus. Ich bin mir aber unsicher, ob ich Manas guten Gewissens ins Grüne schicken kann, wenn es ihm schon am Marienplatz einsam wird. Immerhin bestellt er gerade sein zweites Bier und freut sich, dass das genauso funktioniert wie in seinem Lehrbuch, damals im Goethe-Institut.

Den ersten Schritt, sich an das hiesige Dorfleben anzupassen, hat er also getan. Wie der Rest der Anpassung vonstattengeht, darauf darf ich noch gespannt sein. Nachdem Manas von seiner ersten Auslandsreise ins heimelig wuselnde Delhi zurückgekehrt ist, steht fest: Er zieht fürs Studium nach München. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.

 

Verschwörung des Patriarchats

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Ist die Art, wie man seine Wohnung einrichtet genetisch bedingt? Ali und ihr Freund spalten mit ihrem neuen Perserteppich auf jeden Fall die Geschlechter…

Ich glaube ja: Die Art, wie man die Wohnung einrichtet, ist nicht genetisch bedingt. Ich weiß, Autoren von Büchern über schlecht einparkende Frauen und nicht zuhörende Männer würden mir da bestimmt widersprechen. Die Argumentation geht dann in etwa so: Schon damals, als Männer auf die Jagd gingen und Frauen in der Höhle auf ihre Rückkehr warteten, dekorierten sie das Heim mit Trockenblumensträußen und ärgerten sich über herumliegende Mammutpelz-Socken. Deswegen habe ich mir zwei Millionen Jahre später auch ein Sofa mit Blümchenmuster statt eines mit Mammutpelz-Überzug gekauft. Ganz logisch.

Über solche Argumentationen haben wir uns immer lustig gemacht. Ali und ich waren in der Oberstufe das Emanzen-Dreamteam. Mittlerweile hat die Genetik Ali eingeholt. In dem Wohnzimmer ihrer Pärchenwohnung liegt ein evolutionsbiologisches Fundstück: ein Perserteppich. An sich ist an ihm nichts Besonderes. Er ist in erster Linie groß. Und, na ja: gemustert. Viel mehr Adjektive möchte ich ihm gar nicht zuordnen – aus Angst meinen Gastgebern zu nahezutreten. Genau das ist jedoch bereits Teil seiner Spezialkraft: Alis Riesenperserteppich spaltet die Geschlechter. Das begann bereits mit Ali und ihrem Freund. Sie hat sich inzwischen mit dem Objekt auf dem Höhlenboden arrangiert – warme Füße sind ja, rein evolutionsbiologisch betrachtet, auch was Feines.

Nun erlebt Ali jedoch bei Besuchern immer wieder dasselbe Spiel. Frauen schweigen zunächst und merken irgendwann vorsichtig an: mhh, ja, ein Perserteppich also. Männer hingegen brechen in Begeisterungsstürme aus: der Perserteppich, hey, macht den Raum gleich viel gemütlicher. Das Emanzen-Dreamteam steht vor – oder vielmehr auf – einem Rätsel. Denn dass die männliche Vorliebe für Perserteppiche bereits im Kindergartenalter anerzogen werde, ist genauso albern wie die Erklärung, sie sei ein genetisches Erbe unserer Höhlenmenschenzeit. Bleibt wohl nur eine Erklärung: Verschwörung des Patriarchats. Zu welchem Zweck? Da nehmen wir gern Vorschläge entgegen. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.