Judith müsste eigentlich Bewerbungen schreiben, aber leider ist das mit den beruflichen Zielen nicht mehr ganz so einfach wie in den Grundschul-Freundebüchern.
Judith müsste eigentlich Bewerbungen schreiben – Erwachsenenkram. Stattdessen sitzen wir mit einer Flasche Wein vor meinem Fernseher und zocken uns durch meine Sammlung von Videospielen der Neunzigerjahre. Die Neunziger wirken dabei plötzlich wie ein goldenes Zeitalter, in dem Berufswünsche wunderbar vage bleiben durften, uns pixelige Grafik in Staunen versetzte und überhaupt nichts verdächtig erschien an einem italienischen Klempner, der vollgedröhnt mit bunten Pilzen den Kampf gegen eine boshafte Riesenschildkröte aufnimmt.
Heute müssen Wunschträume gegen konkrete Pläne eingetauscht werden und die Frage „Was will ich werden“ taucht auch abseits von Grundschul-Freundebüchern auf. Als wir damals in Schreibschrift unsere beruflichen Ziele unter unsere Lieblingsfarbe und das Lieblingsessen auf die Zeilen krakelten, wirkte das alles noch sehr viel einfacher. Hilfreich war sicher, dass Achtjährige im Schnitt nur rund 15 verschiedene Berufe kennen: Astronaut, Krankenschwester, Fußballprofi – ja. Head of Global Supply Chain Management – eher nein.
Wenn es dann wirklich ernst wird, erscheint die Auswahl allerdings riesig. Das liegt vielleicht auch an der allgemeinen Verwirrung: Man ertappt sich plötzlich dabei, nicht nur bei allen möglichen Berufen zu überlegen, wie der Arbeitsalltag wohl so aussehen mag, sondern auch bei den absolut Unmöglichsten. Während ich mit meinem Schwert auf einen pixeligen Gegner einkloppe, frage ich mich, wie viele Wochenstunden man mit der Weltvernichtung wohl beschäftigt ist. Es dauert peinlich lange, bis mir auffällt, dass der Satz „Videospielbösewicht (m/w) gesucht“ nie in Stellenanzeigen auftaucht.
Vielleicht hat Judith deshalb noch nicht mit der Suche begonnen. Schon im ersten Semester hat sie angekündigt, ihre Fächerkombi qualifiziere sie in erster Linie zur Sektenführerin. Noch so eine Stelle, die selten ausgeschrieben wird – und noch viel seltener in Grundschul-Freundebüchern auftaucht. Immerhin kann man uns einen Erfolg nicht nehmen: Wenn unsere Grundschul-Ichs wüssten, dass wir jetzt so lange aufbleiben dürfen, wie wir wollen, um Chips zu futtern und Videospiele zu spielen, wären sie ziemlich stolz auf uns. Susanne Krause
Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.
Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.