Ruhe ist relativ

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Manas aus Delhi ist zum ersten Mal in München und wieder bestätigt sich: München ist eigentlich ein Dorf. Umgekehrt fühlen sich all die bayerischen Landkinder hier plötzlich großstädtisch.

München ist bekanntlich ein Dorf. Das fällt besonders Menschen auf, die – im Gegensatz zu München – aus einer Großstadt kommen. Etwa der jungen Frau aus Berlin, die sich ganz entzückt zeigt, welche ruhige Ecken es hier doch gibt. Das Kompliment gilt allerdings nicht dem alten Südfriedhof oder den Schwabinger Seitengässchen, sondern fällt mitten auf der Fraunhoferstraße. Ruhe ist relativ. Noch so ein ruhiges Örtchen: der Marienplatz. Menschenleer. Findet zumindest Manas. Auch dass er vom Alten Peter aus bis an den Rand der Stadt sehen kann, verwirrt den jungen Mann. Wen die erste Fernreise von Delhi nach München führt, der hat wohl wirklich eher das Gefühl, einen Ausflug aufs Land zu unternehmen.

Umgekehrt fühlen sich all die bayerischen Landkinder hier plötzlich großstädtisch. Bevor sie fürs Studium hergezogen sind, kannten sie von der Stadt nur den Marienplatz (so viele Menschen!!!), von dem aus der Familienverband zweimal im Jahr zu einer Shopping-Tour in Richtung Stachus aufbrach. Oft erfolgt erst nach dem Umzug die Entdeckung, dass es ein München jenseits von Stachus und Marienplatz gibt – München also sogar noch größer ist als erwartet. In punkto Ortskenntnis unterscheiden sich zugezogene Speckgürtelkinder bisweilen nur minimal von Touristen – auch wenn sie wohl niemals die amerikanische Familie toppen, die eine Rhein-Kreuzfahrt von München nach Neuschwanstein buchen wollte.

Tourist Manas war zwar bereits in Neuschwanstein (wenn auch nicht per Kreuzfahrt), aber weder an der Isar noch im Englischen Garten. Geht gar nicht, finde ich. Als zugereistes Landkind sind das für mich natürlich die Zentren Münchens. Hier kommt meine soziale Prägung durch: Freiluftbesäufnisse machen die Essenz einer Dorfjugend aus. Ich bin mir aber unsicher, ob ich Manas guten Gewissens ins Grüne schicken kann, wenn es ihm schon am Marienplatz einsam wird. Immerhin bestellt er gerade sein zweites Bier und freut sich, dass das genauso funktioniert wie in seinem Lehrbuch, damals im Goethe-Institut.

Den ersten Schritt, sich an das hiesige Dorfleben anzupassen, hat er also getan. Wie der Rest der Anpassung vonstattengeht, darauf darf ich noch gespannt sein. Nachdem Manas von seiner ersten Auslandsreise ins heimelig wuselnde Delhi zurückgekehrt ist, steht fest: Er zieht fürs Studium nach München. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.