Anna K. Seidel / Foto: Julian Baumann

„Missed the exit“

Die Schauspiel-Studentin Anna K. Seidel lauscht Spaziergängern, aus den Gesprächsfetzen entstehen Virus-Verse und Corona-Gedichte.

von Lena Bammert

Es begann am 7. April um 19.10 Uhr. Eigentlich wollte Anna K. Seidel, 27, nur in ihr Tagebuch schreiben. Sie macht das oft, es ist Teil ihres Lebens und irgendwie auch Teil ihres Studiums. Anna studiert Schauspiel an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Das Tagebuchschreiben helfe ihr, sich selbst zu reflektieren, sagt sie, sich selbst näher zu sein.

Seitdem das Coronavirus das Leben weitestgehend in die eigenen vier Wände verbannt hat, schreibt Anna oft auf einer Bank oder einer Wiese im Englischen Garten – um ein bisschen Normalität zurückzugewinnen, wie sie sagt, um ein bisschen atmen zu können. Am 7. April war die Luft dann aber trotzdem raus: „Ich war so müde auf meine Gedanken. Irgendwann habe ich deshalb aufgehört, über mich und meine Situation nachzudenken. Stattdessen spitzte ich die Ohren.“

Plötzlich tauchte da eine ganz neue äußere Welt auf, bestehend aus Gesprächsfetzen und Satzfragmenten von vorübergehenden Spaziergängern. Anna fing an, diese verbalen Bruchstücke in ihr Tagebuch zu notieren. In genau der Reihenfolge und in genau dem Wortlaut, in dem sie zu ihr kamen, „die interessante Dramaturgie des Zufalls“, nennt sie das.

Entstanden sind daraufhin „Neun Kollektive Quarantäne Gedichte“, wie Anna ihre Sammlung beschreibt. Die Titel bestehen aus den jeweiligen Tagesdaten und Uhrzeiten, wie der Beginn eines Tagebuchs eben.

Und nicht nur im Leben, auch in der Lyrik sorgt das Virus für Unsicherheiten und Denkpausen. Die Verse der Corona-Gedichte sind unvollständig, die Wörter reimen sich nicht. Trotzdem fügt sich am Ende alles zu einem großen, geflickten Ganzen zusammen. Über das Ende entscheidet im Fall der Gedichte aber Anna: „Ich höre auf zu schreiben, sobald ein Satz einen Rahmen bildet.“ Die Gedichte sind dabei so banal und absurd wie das Leben eben selbst. Verse wie „ja ich kenn auch irgendwelche Leute aber halt nicht so tief“ und „die haben ja so viele Gefangene“ werden genauso zu lyrischen Nachbarn, wie die Frage, „wo sind die Brezeln?“, und die Erkenntnis, „das Wasser ist ganz schön langweilig“.

Auf den ersten Blick ergeben sie keinen Sinn, vielleicht auch nicht auf den zweiten. Aber irgendwie passen sie dann doch zusammen, irgendwie fühlt man sich mit seinen Gedanken plötzlich weniger allein, weil andere sie anscheinend auch haben: „Ich finde das total schön, wie die Fantasie die Sätze vervollständigt“, sagt Anna.

An einen akustischen Fetzen kann sich Anna besonders gut erinnern: „missed the exit“. Sie sagt: „Der Satz war so gewaltig für mich. Da hat wahrscheinlich nur jemand am Telefon gemeint, dass er den Ausgang im Englischen Garten nicht gefunden hat, aber mir kamen sofort Bilder von der aktuellen Coronakrise, einem brennenden Tschernobyl und der Heuschreckenplage in Kenia in den Kopf. Und ich dachte daran, ob wir nicht vielleicht wirklich den Ausgang verpasst haben.“