Tizian Unkauf, Sina Taubmann und Markus Mitterer

Gemeinschaft in den Gassen

Tizian Unkauf engagiert sich für ein aktives und nachhaltiges Miteinander im Olympiadorf, schafft Treffpunkte und bietet Aktionen. Sein Projekt Olytopia wird mittlerweile von verschiedenen Seiten gefördert. Bis dahin war es ein schwieriger Weg.

Von Lena Bammert

Es ist Sommer. Die Studierenden im Olympischen Dorf schlafen mit offener Tür oder gleich im Freien vor ihren bemalten Bungalows. Die Nachbarn sind für einander da, sie tauschen Milch oder Bananen aus, übrig gebliebene Nudeln mit Tomatensoße werden geteilt oder verschenkt. Es wird gegrillt, das Gemüse kommt aus Gemeinschaftsgärten, die Beete sind zusammengeschustert aus kostenlosen Holzpaletten, die Erde durchsetzt mit selbstgepflanzten Setzlingen. Die Langzeitmieter aus dem oberen Teil des Olympiadorfs kommen dazu, man kennt und grüßt sich. Nach dem Essen trinkt man noch ein Bier oder ein Spezi, hört Musik und zieht zusammen durch das Studentenviertel und das Oberdorf, sammelt Kronkorken, Plastikfetzen und Zigarettenstummel ein. Alles ist sauber, alles gehört allen.

Diese Vision stammt von Tizian Unkauf, 27. Er hat diesen Traum seit sieben Jahren, so lange wohnt er schon im Studentenviertel des Olympiadorfs. Damals ist er für sein Maschinenbaustudium hergezogen, von Heilbronn nach München. Er hat sich gefreut, auf Gemeinschaft und Nachbarschaft. Sein Traum vom grünen Dorf, er ist entstanden aus enttäuschten Erwartungen.

Die ersten Monate in München verbrachte er in einem privaten Wohnheim. Wenn Tizian sich an diese Zeit zurückerinnert, hört es sich an, als würde er eine Art steriles Gefängnis beschreiben. Er erzählt von penibler Sauberkeit, von Gemeinschaftsräumen ohne Ausstattung, für die man Wochen vorher irgendetwas unterschreiben musste. Er sagt über diese Zeit: „Ich war da sehr enttäuscht vom Sozialleben.“ Dann bekam er von einem Freund einen Tipp, er solle doch einfach mal in die Verwaltung des Olympiadorfs gehen. Eine Woche später hatte er einen Bungalow. Und wurde wieder enttäuscht.

Tizians Bungalow steht am Rande der Siedlung, er ist der letzte der Gasse. Gasse, so nennen sie hier im Viertel die geraden Wege, an denen die Bungalows stehen, alles ist kompakt und nah beieinander. Während Tizian – roter Billabong-Pulli, Jeans, Cap über den kurzen braunen Haaren – von seiner grünen Utopie für das gesamte Olympiadorf erzählt, sitzt er entspannt auf einer kleinen Holzbank vor seinem Bungalow, die Hände im Schoß gefaltet, die Füße ausgestreckt.

Nach seinem Einzug engagierte sich Tizian im Studentenverein. Er war Haussprecher für mehrere Ausschüsse, Ansprechpartner für Fragen zu Themen wie Werkstatt oder Fotoklub. Als Tutor half er mit, Partys, Kultur- und Skiausflüge zu veranstalten. Umweltbewusst war Tizian schon immer, Mülltrennung, selbstgeschlachtetes Fleisch von der Weide, gefüllte Paprika mit Tofu, er und sein Bruder wurden von ihren Eltern „von klein auf wachsam erzogen“. Mit seinem Bruder baute er deshalb einen Gemeinschaftsgarten, einen sogenannten Gassengarten, sie stellten einen Tisch und Sitzmöglichkeiten dazu. Die Setzlinge für Kürbis und Co kamen aus den Gewächshäusern ihrer Großeltern aus Heilbronn.

Tizian sagt: „Ich habe ziemlich viel ins Olydorf investiert.“ Er sagt auch: „Irgendwann habe ich einfach resigniert.“ Der Gassengarten funktionierte nur im Freundeskreis, fremde Menschen trauten sich nicht so ganz dazu, ab und zu verschwanden Paletten oder ein Lavendelbusch. Die Menschen, die Lust auf Gemeinschaft hatten, mussten nach Ende ihrer Wohnzeitenfrist wieder ausziehen. Bei Einladungen zu Rundgängen für Neubewohner machten viele ihre Bungalowtür einfach wieder zu.

Tizian findet so ein Verhalten „komisch und befremdlich“, er versteht aber auch, dass viele Leute nicht damit erzogen werden, ihre Nachbarn kennenzulernen. „Ich kenne mittlerweile vielleicht drei Leute in meiner Gasse. Dass dieses Gemeinschaftsgefühl sich noch nicht eingestellt hat, das fuchst mich einfach. Aber ich als einzelne Person kann halt diese Situation nicht ändern.“

Er ist aber keiner, der lange einzeln bleibt, dafür macht und redet er zu viel. Auf einer Veranstaltung für eine plastikfreie Umwelt quatschte er mit jemandem am Stand des Vereins „rehab republic“, der sich für nachhaltigeren Konsum einsetzt. Er erzählte von seinen Ideen fürs Olympiadorf, auch von den Schwierigkeiten. Markus Mitterer, einer der Gründer von rehab republic, fand Tizians Idee von einem grünen Dorf in der Stadt gut, er lebt selbst im Olympiadorf, im Oberdorf bei den Mietwohnungen.

Aus Tizians Träumen wurde daraufhin Olytopia, ein Projekt, das seine Utopie langsam aber sicher in die Wirklichkeit überführen sollte. Durch gemeinsame Aufräumaktionen, die Wiederbelebung des Gemeinschaftsgartens, Stammtische und Freibier sollen die Langzeitmieter des Oberdorfs und die Studierenden zusammenkommen.

Mittlerweile glauben ziemlich viele Menschen an Tizians Vision. Unterstützt wird Olytopia nicht nur vom Verein rehab republic, sondern auch vom Referat für Gesundheit und Umwelt der Stadt München sowie von der Paulaner-Brauerei. Die Brauerei fördert mit dem Paulaner-Salvator-Preis jedes Jahr Projekte, die München in ihren Augen lebenswerter machen. Anfang dieses Jahres fand die Preisverleihung statt, Tizian und seine Mitstreiter vom Verein rehab republic, Sina Taubmann, 26, und Markus Mitterer, 34, bekamen für Olytopia ganze 25 000 Euro. Das Geld soll für Material, Personalkosten und Büromiete verwendet werden.

Von sich selbst sagt Tizian, er sei mittlerweile realistischer geworden: „Ich erwarte nicht, dass nach einem Jahr Olytopia sich plötzlich alle zu ,Ringel, Ringel, Reihe’ treffen. Ich glaube aber, dass es verschiedene Gründe gibt, warum Leute nicht mitmachen wollen, und ich hoffe, dass wir diese Gründe abbauen können. Wir wollen ein selbstverständliches Nachbarschaftsgefühl ermöglichen und fördern, nicht erzwingen, so etwas geht eh nie.“

Vor seinem Bungalow hat Tizian eine Art Sitzecke im Freien zusammengesammelt. Die Studierenden, die ausziehen, lassen ihre nicht mehr benötigten Habseligkeiten oft zurück. Acht Stühle und vier Tische sind auf diesem Weg vor Tizians Bungalow gelandet. Die Farben der Tischplatten sind abgeblättert, gelb, türkis, weiß. Darauf hat Tizian mit schwarzem Permanentmarker ein Mülleimer- und Recycling-Symbole gezeichnet.

Ihm ist wichtig, dass vor seinem Bungalow nicht nur ein Tisch steht, sondern vier stehen, nicht nur drei Stühle, sondern acht plus einer Bank, schließlich soll da ausreichend Platz für ein Miteinander sein. Es freut ihn, wenn er seine Bungalowtür aufmacht, und da plötzlich Menschen sitzen, die gemeinsam reden, trinken und essen. Es ist ihm egal, ob er diese Menschen schon kennt oder nicht – wenn nicht, dann setzt er sich eben dazu und lernt sie kennen. In solchen Momenten fühlt sich Tizians Traum vom grünen Dorf gar nicht mehr so träumerisch an.

Foto: Vincent Unkauf


Das Interview zu diesem Artikel fand noch im Freien statt. Seitdem träumt unsere Autorin Lena ebenfalls von einem grünen Dorf. Außerdem hat sie sich für die Zeit nach Corona vorgenommen, bei all ihren Nachbarn zu klingeln und sie zu einer großen Grillparty einzuladen.