Sibylle Randoll reist auf den Spuren ihrer Ahnen durch die USA
– zu besonderen Anlässen im blauen Seidenkleid.
Wie gut, dass ihr langweilig war an diesem Weihnachtstag im Jahr 2012. Sibylle Randoll entdeckte im Schrank ihrer Schwester das Tagebuch ihres Ururgroßvaters und begann, darin zu blättern. Schnell war sie vertieft in die Geschichte von Otto Dahl, dem jungen Lederfabrikanten aus Wuppertal, der im 19. Jahrhundert nach Amerika reiste. Der Hudson River! Die Indianer! Die Niagara-Fälle – dieselben Wasserfälle, die Sibylle Randoll selbst bei einem Auslandsaufenthalt besucht hatte. „Als ich das gelesen habe, war ich sofort angefixt“, sagt sie. Und hatte von diesem Tag an die Idee im Kopf, die Route ihres Ururgroßvaters nachzureisen.
Die junge Frau mit dem ungebändigten blonden Haar und dem Grübchen im Kinn hat etwas Resolutes an sich. Wenn nicht jetzt, wann dann? Denn Sibylle ist jetzt 26 – genauso alt wie ihr Ururgroßvater damals. Otto Dahl hatte sich im Jahr 1880 mit seinem Vater überworfen. Kurz entschlossen buchte er ein Ticket auf einem Ozeandampfer. In Amerika kam er bei deutschen Bekannten unter, arbeitete in New York und Chicago. Im damals noch wilden Westen lernte er neue Techniken der Lederverarbeitung, jagte Hirsche und traf Indianer. Fürs Sightseeing blieb das Wochenende. „Es war eine Art Work and Travel – nur eben 1880“, sagt Sibylle. Eineinhalb Jahre sollte die Reise dauern. Als die Nachricht vom Tod des Vaters eintraf, kehrte Otto Dahl zurück und übernahm die Firma in Deutschland.
Seine Amerika-Route will Sibylle Randoll nun nachfahren. „Barmen to Bozeman“ heißt ihr Reiseprojekt: von Barmen im heutigen Wuppertal bis ins verschlafene Bozeman in Montana. Statt in die USA zu fliegen, sticht Sibylle am 4. Mai mit einem Luxusdampfer in See – es ist ihr erstes Mal auf einem Kreuzfahrtschiff. In den USA will sie nicht mit dem Auto, sondern mit der Eisenbahn unterwegs sein: Auf ihrer Strecke liegen New York, die Niagarafälle, Chicago, Salt Lake City and der Yellowstone-Nationalpark.
Es soll eine bewusst entschleunigte Reise werden, sagt sie. „Wir jetten heutzutage für ein Wochenende um die halbe Erde. Wie ist es so, langsam zu reisen?“ Zumindest auf der Fahrt nach Bozeman wird Randoll der Route ihres Ururgroßvaters so treu wie möglich bleiben.
Auf ihrem Blog explories.de will sie zweisprachig über die deutsche Kultur in Amerika berichten. Schon lange interessiert sich Sibylle für Kultur-Exklaven. Bei einem Aufenthalt in der ehemaligen Kolonie Namibia war sie überrascht, wie lebendig die deutsche Kultur dort teilweise noch ist. „Dort schauen viele am Sonntagabend den Tatort und sprechen beim Abendessen über Merkel.“
In den USA stellen Deutsche historisch gesehen die größte Einwanderergruppe – und haben Spuren hinterlassen: Die Brooklyn Bridge etwa wurde von einem Ingenieur aus Thüringen geplant. Sibylle möchte herausfinden, wie aktiv deutsche Kultur in den USA heute gelebt wird. „Zieht man sich einmal im Jahr ein Dirndl zum Oktoberfest an oder ist das noch im Alltag verankert?“ Sie will in den USA deutsche Restaurants testen und zu Treffen und Festen der deutschen Communitys gehen.
Ausgewanderte Deutsche haben damals auch Otto Dahl aufgenommen, der für sie gearbeitet und bei ihnen übernachtet hat. Ein paar Pflichttermine hat Sibylle schon: die Steuben-Parade in New York, das German Fest in Milwaukee und der German-American Day am 6. Oktober. Das erste Meeting steht jedenfalls schon fest: Bei der Ankunft in New York hat sie das deutsche Generalkonsulat zum Lunch eingeladen.
Auffallen dürfte sie auf jeden Fall: An den wichtigsten Tagen der Reise möchte Sibylle ein blauglänzendes Seidenkleid tragen, das sie extra nach der Mode des 19. Jahrhunderts hat anfertigen lassen. Das „Nachmittagstee- und Spaziergehkleid“, wie sie es nennt, füllt einen halben Koffer und besteht aus sieben Schichten, mit Korsett und Kragen. Gegen Regen schützt der Schirm der Urgroßmutter, der mehr als hundert Jahre alt ist. Nur das Po-Kissen aus modernem, leichten Material und der Reißverschluss fallen historisch aus der Reihe: Schließlich muss Sibylle das schwere Kleid selbst anziehen können.
Für Sibylle ist das Projekt auch eine Möglichkeit für Sightseeing abseits der ausgetretenen Pfade. „Ohne meinen Ururgroßvater wäre ich nie auf die Idee gekommen, nach Bozeman zu fahren. Warum auch?“
Sibylle hat BWL und Tourismusmanagement studiert und ist in der Welt weit herumgekommen: Allein fürs Studium war sie in den Niederlanden, Peru, Dänemark, Slowenien, Spanien und Namibia. Überraschen kann sie die USA-Reise trotzdem noch, meint sie. Ein Baum, den ihr Großvater damals skizziert hat, steht immer noch, nach 136 Jahren. „Was ich da fühlen werde, wenn ich mit der Zeichnung meines Ururgroßvaters dort stehe“, sagt Sibylle und sucht kurz nach Worten. „Darauf bin ich sehr gespannt.“
Von: Elsbeth Föger
Foto: Benjamin Behringer