Neuland: Korbinian Vogt

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Korbinian Vogt verbindet die Aktfotografie mit der Naturfotografie und nennt es “Akt in Natur”. Zum Beispiel amerikanisches Model mit grönländischem Eis.

2017 war sein Jahr: Korbinian Vogt, 22, steuerte ausdrucksstarke Porträts zur „10 im Quadrat“-Ausstellung im Farbenladen bei, zeigte seine Fotografien in drei Ausstellungen der Münchner Galerie Ingo Seufert, stellte auf der ArtMuc Kunstmesse aus – und im November sogar auf dem Mailänder Photo Vogue Festival. Doch all das war für den bodenständigen Fotografen nichts gegen sein Highlight des Jahres: Im Sommer wanderte er mit dem amerikanischen Model Sheri Chiu durch die menschenverlassene und wilde Natur Grönlands, um die junge Frau vor der Kulisse des Ilulissat Eisfjords zu fotografieren. Das dabei entstandene Projekt „Disko Bay“ wurde nun in die fünfte Ausgabe des renommierten Art Books „P Magazine“ aufgenommen, in dem exklusive Bilder internationaler Fotografen gezeigt werden. Die limitierten Exemplare der Hardcover-Edition kann man bereits im Internet vorbestellen. Auch 2018 will Korbinian Vogt wieder viel reisen und sein Langzeitprojekt „Akt in Natur“ ausbauen: „Mein Plan ist es, den kompletten Norden zu fotografieren.“

Text: Anna-Elena Knerich

Foto: Sheri Chiu

„Hier fühle ich mich sicher“

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Noora Ibrahim war nach der Scheidung von ihrem Mann wohnungslos – sie kam mit ihrer fünfjährigen Tochter Leila im Paritätischen Haus für Mutter und Kind unter.

München – In bauschigem Tüllröckchen und mit Glitzerstrumpfhose sitzt die fünfjährige Leila am Tisch und isst Fruit Loops, im Hintergrund laufen deutsche Kinderlieder. Bei „Der Kuckuck und der Esel“ springt sie auf und sagt etwas auf Arabisch zu ihrer Mutter. Noora Ibrahim holt Stifte und Papier und gibt sie Leila, die sofort zu malen beginnt. „Sie liebt es zu singen – besonders wenn sie malt“, erklärt Noora, Ende 20, mit einem Lächeln und setzt sich wieder auf das ordentlich gemachte Bett, das mitten in dem kleinen Raum steht. Mit leiser Stimme erzählt sie, dass ihr Ex-Mann nach der Scheidung ihre Wohnung gekündigt hatte: „Ich wusste nicht, wo ich mit Leila hin sollte.“ Doch die beiden hatten Glück: Im Sommer bekamen sie eines der 64 Apartments, die das Paritätische Haus für Mutter und Kind in Sendling anbietet. Hier kommen junge schwangere Frauen oder Mütter mit ihren Kindern vorübergehend unter, wenn sie wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind – meist sind das dann Frauen, die in einer kaputten Partnerschaft leben oder die keine Arbeitserlaubnis haben.

„In München gibt es immer weniger Wohnungen, die für Geringverdiener oder Sozialhilfeempfänger bezahlbar sind, darum drängen immer mehr Menschen auf Sozialwohnungen“, erklärt der stellvertretende Geschäftsführer des Hauses, Rolf Schlesinger. Weil die Anzahl an Sozialwohnungen aber auch begrenzt ist, entstehen lange Wartezeiten – zu deren Überbrückung nimmt das Haus für Mutter und Kind die Betroffenen auf. Aufgrund des Andrangs gehe aber auch das nicht von heute auf morgen, darum müssten einige Frauen zwischenzeitlich in Obdachlosenunterkünften oder anderen Frauenhäusern leben, sagt Schlesinger. Diese Unsicherheit und die Belastung der Mütter übertrage sich auch stark auf die Kinder: „Bei den Aufnahmegesprächen sind die Kinder oft extrem unruhig und kaum zugänglich. Wenn sie dann eine Weile bei uns wohnen, merkt man richtig, wie gut ihnen die geregelten Verhältnisse tun.“ Die Einrichtung bietet nicht nur ein Dach über dem Kopf, Beratung und Unterstützung bei der Wohnungssuche, sondern auch ein vielfältiges Programm – von Kinderbetreuung und Beratung in Erziehungsfragen über Freizeitveranstaltungen und Ausflüge bis hin zu sehr gefragten Koch- und Nähkursen.

Noora sagt, sie fühle sich sehr wohl in dem Haus. In jedem Stockwerk gibt es ein Spielzimmer, in dem die Kinder zusammen spielen können. Noora hat sich mit einer anderen Mutter angefreundet. Besonders dankbar ist sie für die Unterstützung: Die Sozialarbeiter würden ihr bei den komplizierten Formularen helfen und sie könne sie immer um Rat fragen, sagt sie auf Englisch. Eigentlich spricht sie schon gut Deutsch – gerade fängt sie ihren B2-Kurs an –, aber im Englischen ist sie sicherer.

Noora stammt aus dem Sudan, wo sie Übersetzung studiert hatte, bevor sie mit ihrem Ehemann in die USA ging. 2013 zogen sie mit Leila nach München und lebten zusammen in einer Wohnung – bis die Probleme kamen. „Es war schrecklich, die Polizei kam bestimmt tausend Mal“, erzählt sie. „Wir lebten ständig in Angst, bis wir hierher kamen: Hier fühle ich mich sicher.“ Sie streicht ihrer Tochter über den Kopf. Leila hat einen Platz im Kindergarten, so dass Noora jeden Tag in den Deutschunterricht gehen kann. Außerdem arbeitet sie ehrenamtlich bei einer Organisation für Flüchtlinge: Weil sie Arabisch, Englisch und Französisch spricht, hilft sie beim Übersetzen und versucht, Frauen aus arabischen Ländern zum Deutschlernen zu motivieren: „Ich sage ihnen immer, dass sie hier nicht nur kochen und Babys kriegen müssen, sondern dass sie die Möglichkeit haben zu arbeiten.“

Noora selbst hofft, einen Job zu finden, wenn Leila nächstes Jahr in die Schule kommt. Sie habe viel Erfahrung mit Computerarbeit und schreibe bei der Flüchtlingsorganisation viele Einladungen zu Veranstaltungen. Außerdem hat sie im Haus einen Kurs für Kinderbetreuung mitgemacht: „Danach haben die Betreuerinnen uns angeboten, dort zu arbeiten“, erzählt Noora. Das habe sie sehr erstaunt: Anstatt von den Bewohnerinnen Geld für die Betreuung ihrer Kinder zu verlangen, bezahle man die Mütter dafür. „Ich stehe jetzt auf einer Liste, und wenn sie mich brauchen, melden sie sich.“

Für die Kinder gibt es auch ein Musikprogramm, bei dem sie mit einer Musikpädagogin Instrumente basteln, singen und tanzen. „Diese Art von Förderung ist für die Kinder sehr wichtig, um ihre psychische Belastung ein wenig zu mildern“, sagt Rolf Schlesinger, der schon seit 38 Jahren in der Einrichtung arbeitet. Auch Ausflüge in die Berge oder ins Marionettentheater sollen dazu beitragen, den Horizont der Bewohnerinnen zu erweitern. „Diese Angebote funktionieren aber nur durch Spenden – mit dem Budget der Einrichtung können wir gerade mal die laufenden Kosten decken.“

Die CD mit den Kinderliedern ist aus. Leila klettert auf den Schoß ihrer Mutter und zeigt ihr das Bild, das sie gemalt hat. „Am liebsten würde ich für immer hier bleiben“, sagt Noora. 

Text und Foto: Anna-Elena Knerich

Lernen von den Jungen

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Bei „Internet und Kaffeeklatsch“ helfen Gymnasiasten Senioren. „Die Schüler nehmen dabei gewissermaßen eine Enkelrolle ein – und den Senioren bei Kaffee und Kuchen damit auch den Druck“.

Konzentriert beugt sich Angelika B. über das Tablet und beobachtet, wie die beiden Jungs das Wlan darauf einrichten. Jeden Schritt notiert sie auf einem Block – in Stenografie. Was diese Haken und Kringel bedeuten, wissen ihre 15-jährigen Gruppenpartner nicht, denn in Zeiten von Smartphones, Laptops und Tablets gebraucht diese Kurzschrift kaum noch jemand. Genau darum zeigen sie der Seniorin heute, wie sie mit einem Tablet umgehen kann. „Ich will mir die Welt noch offenhalten. Darum will ich lernen, online ein Hotel zu buchen oder Zeitung zu lesen“, sagt die Seniorin. Wegen ihrer kleinen Rente müsse sie ihre Ausgaben reduzieren – und das fange bei den monatlichen 60 Euro für ein Zeitungsabo an.

Außer diesen drei Menschen sitzen noch viele weitere Grüppchen in der Journalistenakademie und arbeiten mit Tablets: „Internet und Kaffeeklatsch“ ist ein neues Projekt der Münchner Koch-Ebersperger-Stiftung, das Senioren in lockerer Atmosphäre das Internet nahebringen soll – unter Anleitung von fachkundigen Dozenten und Schülern des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums (KKG). Darunter auch der Schülersprecher Valerian Wassmer, 17, und die 15-jährige Nina Böheim, Klassensprecherin der 10f: „Vor ein paar Wochen hat Altoberbürgermeister Ude an unserer Schule einen echt tollen Vortrag über das geplante Projekt gehalten“, erzählt Valerian. Das habe ihn motiviert mitzumachen. Christian Ude ist auch Schirmherr des Projekts und wird bei jedem der zweiwöchentlichen Treffen dabei sein – persönlich oder per Skype. Beim ersten Treffen in der Journalistenakademie erzählt Ude, wie er selbst erst 2002 über seine Enkel den Umgang mit dem Internet lernte. „Wenn ich mittlerweile E-Mails verschicken kann, dann schaffen Sie das auch“, spricht er den Senioren Mut zu. „Und Trump kann es schließlich auch“, ruft ein Mann und erntet Gelächter. Die lockere Atmosphäre wäre schon mal hergestellt.

Valerian erzählt, dass er und Nina damals nach Udes Rede durch die Klassen gingen, um noch mehr Schüler für das Projekt zu gewinnen: „Wir waren erstaunt, wie viele Lust darauf hatten.“ Das mag daran liegen, dass sich die Schule – insbesondere im 150. Geburtsjahr von Käthe Kollwitz – der sozialkritischen Arbeit ihrer Namensgeberin verpflichtet fühlt und viel Wert auf soziales Engagement legt. „Wir wollen das reale Leben in die Schule holen, damit Schule mehr ist als nur Fachunterricht“, sagt Alexandra Voag, Mitarbeiterin der Schulleitung. Über die Münchner Tafel Neuhausen, die jeden Freitag Lebensmittel in den Räumen des KKG ausgegeben und von der Koch-Ebersperger-Stiftung unterstützt wird, sei es dann zu mehreren Kooperationen zwischen der Schule und der Stiftung gekommen – unter anderem zu „Internet und Kaffeeklatsch“.

„Die Schüler nehmen dabei gewissermaßen eine Enkelrolle ein – und den Senioren bei Kaffee und Kuchen damit auch den Druck“, sagt Doro Hartmann, die die Idee zu dem Projekt hatte. Sie ist Pressesprecherin der Stiftung und auch beim Seniorenbeirat und anderen Wohlfahrtsorganisationen für Senioren tätig: „Immer wieder erzählen mir ältere Menschen von ihren Ängsten, durch die Technik abgehängt zu werden oder sich zu blamieren.“

Diese Angst ist allerdings oft ziemlich unbegründet, wie sich im Laufe des Nachmittags herausstellt: Die beiden Senioren etwa, mit denen Valerian und Nina zusammenarbeiten, sind schon recht geübt im Umgang mit den Tablets – und die Jugendlichen sehr geduldig, wenn bestimmte Vorgänge eben doch mal länger dauern. Valerian erzählt, dass er selbst zwar noch ein altes Nokia-Tastenhandy hat, aber trotzdem intuitiv mit Tablets und Smartphones umgehen kann. „Bei den Senioren hingegen scheitert es oft schon an der Pin-Eingabe“, sagt er. Dinge, die für Jugendliche selbstverständlich sind. „Das Internet könnte den Alltag der alten Menschen sehr erleichtern. Darum finde ich es wichtig, ihnen die Grundlagen zu erklären – gerne auch mehrmals“, sagt Nina. Sie will später mal einen sozialen Beruf ergreifen. Valerians Tandem-Partner, der 70-jährige Joachim Theusner, sagt, er wolle hauptsächlich mit seiner Familie in China kommunizieren. Ansonsten sei er im Kurs, um sein „Wissen aufzufrischen und Wissenslücken zu schließen.“ Die Kurse bauen nicht modular auf und die ehrenamtlichen Dozenten bearbeiten Themen, die Senioren interessieren: Nachrichtenportale und Zeitungen, Skype oder Gesundheitsinformationen im Netz.

Vor allem aber ermöglicht das Projekt auch denjenigen, die keine Enkel haben, eine Teilhabe – digital und sozial. „Neben Altersarmut ist in München vor allem Alterseinsamkeit ein Thema“, erklärt Eva-Sophie Koch, die Gründerin der Stiftung. Viele alte Menschen seien immobil oder trauen sich nicht mehr rauszugehen. Für sie könnte ein Tablet eine Kontaktmöglichkeit nach draußen sein. Die Geräte, die die Stiftung den Kursteilnehmern zur Verfügung stellt, waren Sachspenden – die zu bekommen war aber schwer: „Senioren sind nicht gerade die größte Zielgruppe für Sponsoren.“

Derzeit kostet die Kursteilnahme fünf Euro, Eva-Sophie Koch würde diesen Betrag durch Spenden aber gerne noch senken, damit noch mehr Senioren teilnehmen: „Oft können sich Rollstuhlfahrer, die geistig noch total fit sind, nicht einmal die Transportmittel leisten.“ Außerdem würden sie den engagierten Schülern gern ein warmes Mittagessen stellen – als kleine Wertschätzung, „weil es ohne sie nicht funktionieren würde“.

Das sehen die Senioren genauso: „Die jungen Leute geben uns das Gefühl, dass es keine blöden Fragen gibt“, sagt eine Frau erfreut in der Feedbackrunde. Auch für die Schüler steht fest, dass sie auf jeden Fall wiederkommen – denn eine solche Erfahrung macht man in der Schule nicht.

Text und Foto: Anna-Elena Knerich

Die Mutmacher

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Der Verein ghettokids kümmert sich um Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen – für Schulmaterialien, Mahlzeiten und Medikamente fehlt allerdings oft das Geld.

Eine Sofaecke, Bücherregale, die bis an die Decke reichen, Nähmaschinen und bunte Jalousien: Der neue Raum des Vereins ghettokids ist ziemlich heimelig dafür, dass es sich um eine ehemalige Lagerhalle handelt. „Ist das geil!“, sagt der 14-jährige Fabian (alle Namen der Jugendlichen geändert), als er und vier Klassenkameradinnen den Kellerraum zum ersten Mal betreten. Sie sind direkt nach dem Nachmittagsunterricht vom Hasenbergl hierher gekommen. Susanne Korbmacher, die Gründerin und Vorsitzende des Vereins, hat für sie frische Brezen, Plundertaschen und Rinderschinken vom Bauernhof besorgt. Als sie die fünf Jugendlichen fragt, ob sie heute schon was gegessen hätten, lautet die einstimmige Antwort: „Nein“. Es ist halb fünf am Nachmittag.

Doch erst müssen die hungrigen Teenager ordentlich den Tisch decken, darauf legt Susanne Korbmacher Wert. Sie ist Studienrätin an der Förderschule und Beraterin für Migration im Auftrag der Regierung Oberbayerns, unterrichtet Deutsch als Zweitsprache, hat eine therapeutische Ausbildung – und 31 Jahre Erfahrung im Umgang mit sozial benachteiligten Kindern. Für ihr unermüdliches Engagement erhielt sie etliche Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz. Vor allem aber – und das ist während des gemeinsamen Essens deutlich spürbar – hat die Pädagogin einen besonderen Draht zu den Jugendlichen. „Frau Korbmacher ist nicht wie die anderen Lehrer. Sie hat viele Ideen im Kopf, und sogar der Unterricht macht bei ihr Spaß“, erzählt Fabian. Der zierliche Kosovo-Albaner hat vor Kurzem ein Praktikum in einem Hotel gemacht und könnte sich gut vorstellen, mal an der Rezeption zu arbeiten. Dafür brauche er aber einen Schulabschluss, erinnert ihn seine Lehrerin, ohne dabei belehrend zu wirken. „Wisst Ihr, warum ich darauf so Wert lege?“, fragt sie mit ihrer rauchigen Stimme in die Runde. „Weil wir Ihnen wichtig sind“, antwortet Fabian. Die schwarzhaarige Frau klatscht mit ihm ab: „Genau! Und ich weiß, dass ihr alle top seid.“

Alle fünf Jugendlichen kommen aus gesellschaftlichen Gruppen, die es schwer haben: Familien mit vielen Kindern, Migrationswurzeln oder alleinerziehenden Elternteilen – „wo das Geld ab dem 21. eines Monats knapp ist und die Kinder öfter krank sind“, sagt Susanne Korbmacher.

Doch sie glaubt fest an ihre „Ghettokids“. Über den Verein kam die 15-jährige Aylin an ein Praktikum beim Bavaria Filmpark, und auch wenn sie dort nicht wie erhofft Elyas M’Barek traf, gefiel es ihr – sie durfte bei Drehs sogar die Kamera und Mikros halten. „Obwohl ich immer dachte, ich wäre zu doof dafür“, sagt Aylin schüchtern. Solche Minderwertigkeitskomplexe versucht Susanne Korbmacher, die selbst in schwierigen Verhältnissen aufwuchs, zu unterbinden: „Ich will ihnen die Kraft geben, sich alleine herauszustrampeln. Und wenn sie es nicht schaffen, reiche ich ihnen eine Hand.“ Durch den Verein ghettokids, die kooperierenden Schulen sowie viele Ehrenamtliche und Förderer erhalten die Jugendlichen Unterstützung: Beim Bildungssupermarkt „Bilsuma“ kriegen sie Lernmaterialien, in Lerncamps bereiten Lehrer sie ehrenamtlich auf den Schulabschluss vor, das Tech-Unternehmen Intel organisiert PC-Kurse.

Der Verein verfolgt dabei eine Philosophie: „Wenn man kostenlos Materialien bekommt, soll man dafür irgendetwas zurückgeben – und sei es nur, immer pünktlich zu erscheinen“, erklärt Benjamin Adler, der aus einer Sinti-Familie stammt und früher selbst am ghettokids-Projekt teilnahm. Er war einer der wenigen, die danach Abitur gemacht und ein Studium begonnen haben. „Ich habe schon immer Nachhilfe gegeben und arbeite heute auch im sozialen Bereich“, sagt er. Außerdem ist er zweiter Vorsitzender des Vereins. Geben und Nehmen.

Am wichtigsten sei jedoch die Art von Bildung, die die Kinder im Hasenbergl nicht bekämen – Bildungsfahrten in die Berge, zu Schlössern oder in den Zoo, sagt Susanne Korbmacher. „Und natürlich Kunstprojekte!“ Bei diesen Worten freuen sich die Jugendlichen: „Malen mit Frau Korbmacher macht so Spaß!“ Die 15-jährige Sophia ist so begabt, dass der Verein ihr nicht nur Leinwände und verschiedene Farben zur Verfügung stellt, sondern auch eine Teilnahme an der Jugendkunstakademie ermöglichte. Ihr Berufswunsch heute: Maskenbildnerin. „Für Horrorfilme“, sagt sie und grinst.

Im Sommer waren sie alle auf Bildungsfahrt in der Wildschönau – für viele der erste Ausflug in die Berge. „Davor kaufte Frau Korbmacher mit uns ein, Wanderschuhe und so etwas“, sagt Aylin. „Und dann mussten wir immer wandern“, sagt die 16-jährige Justine. Die Teenager kichern. Eigentlich habe das schon Spaß gemacht. „Aber am coolsten war das Outdoor-Painting, als wir Leinwände auf eine Wiese stellten und die Berge abmalten“, sagt Fabian. Finanziell unterstützt hatte das Ganze die Phoenix Foundation, die auch die Miete der neuen Räumlichkeiten des Vereins übernimmt. „Jetzt müssen wir den Raum nur noch mit Leben füllen: Ich will einen Deutsch-Intensivkurs anbieten, und bald startet hier ein Nähkurs“, sagt Susanne Korbmacher. Die Nähmaschinen sind gespendet worden – wie so vieles bei ghettokids: „Für die ganzen Schulmaterialien, Mahlzeiten und Medikamente brauchen wir Spenden.“ Die Eltern könnten ihren Kindern meist nicht einmal die Busfahrkarte finanzieren.

Am Ende hat sie noch eine Überraschung für jeden: ein Fotobuch mit den schönen Erlebnissen in den Bergen. Die Mädchen pressen es an sich wie einen Schatz. „Die Fahrt hat uns alle verändert“, sagt Aylin leise. „Ich wünschte, wir könnten so etwas öfter machen.“ 

Text und Foto: Anna-Elena Knerich

Integration mit Leselupe

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Das Projekt ComIn gibt Deutsch- und Computerkurse für Flüchtlinge mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten.

„Ich bin Maram“, tippt die 25-Jährige in die Tastatur – mit ihrem Fuß. Denn die junge Frau aus Syrien sitzt im Rollstuhl und kann sich wegen ihrer Cerebralparese, einer Nervenkrankheit, nur schwer verständigen. Um dennoch am zweistündigen Deutschunterricht teilnehmen zu können, besitzt sie einen gespendeten Laptop, auf dem sie mit dem Fuß langsam jedes neu gelernte Wort eingibt. Dreimal in der Woche wird Maram von ihrer Unterkunft abgeholt, in der sie mit ihren Eltern und sechs Geschwistern lebt. Jedes Mal muss sie die drei Stockwerke getragen werden, denn das Heim ist nicht barrierefrei. Ein ehrenamtlicher Begleitdienst bringt sie ins großräumige Büro des ComIn-Projekts in der Türkenstraße, wo Deutsch- und Computerkurse für Flüchtlinge mit Behinderung angeboten werden.

„Wir sind derzeit auf der Suche nach neuen Räumlichkeiten“, sagt Ricarda Wank, die das Projekt 2003 gegründet hat und bis heute leitet. Gerade wenn mehrere Menschen im Rollstuhl kämen, sei der Computerraum zu eng – außerdem könnten in diesem Zimmer nicht zwei Kurse gleichzeitig stattfinden.

ComIn basiert auf den weltweiten Aktivitäten der Hilfsorganisation Handicap International und fördert die Einbindung von Migranten und Flüchtlingen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung in München. Meist werden diese von Betreuern in Flüchtlingsunterkünften an das Projekt verwiesen. Dort werden sie dann beraten, welche Unterstützung und Förderung für sie sinnvoll sei – je nach Gesundheits- und Aufenthaltsstatus. „Syrer und Menschen aus anderen nicht sicheren Herkunftsstaaten erhalten leichter und schneller Unterstützung durch Stadt und Staat“, sagt Ricarda Wank. „Für Menschen aus den sogenannten sicheren Herkunftsstaaten hingegen ist es sogar mit Versichertenkarte schwer, an Hilfe zu kommen.“ Darum stellt ComIn den Bedürftigen Hilfsgeräte wie Rollstühle, Krücken, Blindenstöcke oder elektronische Leselupen zur Verfügung. Diese erhält ComIn von privaten Spendern – und es gebe immer Bedarf, sagt die Projektleiterin: „Immer wieder gehen beim Verleih Hilfsmittel kaputt, und die Geflüchteten können weder die Reparatur noch ein neues Gerät bezahlen.“ Eine elektronische Vergrößerungslupe kostet 690 Euro.

Für Menschen, die wegen einer Seh- oder Lernbehinderung nicht in Regelkurse eingebunden wurden, bietet das Projekt spezielle Integrationskurse an – geleitet von Haupt- und Ehrenamtlichen mit und ohne Behinderung: Den Deutschunterricht leiten Suad Mohammed, die kleinwüchsig ist und die Wirbelsäulen-Krankheit Skoliose hat, und der Somalier Abdi Karshe, der im Rollstuhl sitzt und derzeit im Krankenhaus ist. Suad Mohammed kam vor elf Jahren alleine aus dem Nordirak und besuchte erst den Deutschkurs von ComIn, bevor sie selbst unterrichtete.

„Vielen Betroffenen tut es gut, sich regelmäßig im Projekt zu engagieren und anderen Geflüchteten mit Behinderung helfen zu können“, sagt Ricarda Wank, die selbst im Rollstuhl sitzt. In Deutschland bleiben Menschen mit einer Behinderung oft im Fördersystem stecken, sie besuchen spezielle Schulen und arbeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. „Das ist oft eine große Umstellung für Betroffene aus anderen Kulturen: In Syrien etwa sind sie einfach überall bei ihrem Vater bei der Arbeit dabei, besuchen dann allerdings keine Schule“, erklärt die Projektleiterin. Gleichzeitig würden Menschen mit einer geistigen Behinderung in vielen Ländern oft versteckt, weil die Familien sich ihrer schämen und eine Diskriminierung fürchten.

Das komme aber auch in Deutschland vor. So sei der Behindertenausweis für viele Flüchtlinge ein schweres Stigma, insbesondere wenn die Behinderung sonst nicht sichtbar ist: Als der 21-jährige Hassan seinen Ausweis bekam, war er darüber sehr unglücklich, erzählt Ricarda Wank. Es habe lange gedauert, bis er auch die Vorteile davon – etwa die Freifahrt im Öffentlichen Nahverkehr – akzeptieren lernte.

Der junge Syrer nimmt auch am Deutschkurs teil. Wegen einer Lernbehinderung kann er nicht lesen und schreiben, in Kombination mit Bildern aber Wörter auf Deutsch aussprechen. Nach dem Unterricht räumt er unaufgefordert alle Materialien zusammen und schiebt Marams Rollstuhl. „Er ist immer hilfsbereit und unterstützt die anderen“, sagt Suad Mohammed, seine Lehrerin. Hassan sagt etwas auf Arabisch und sie übersetzt: „Er hat Schmerzen in den Beinen, aber für einen Arztbesuch braucht er einen Dolmetscher.“

Deutsch zu lernen, ist also der wichtigste Schritt für die Geflüchteten mit Behinderung, um ihr neues Leben in München weitgehend selbständig zu meistern. Neben Materialien zur Alphabetisierung von der Schlau-Schule und der Universität plant die Projektleiterin nun etwas Neues. „Wir wollen Möglichkeiten finden, wie Sehbehinderte und Blinde selbständig und unabhängig Deutsch lernen können“, sagt sie. Ein Informatikstudent, der sich bereits ehrenamtlich im Projekt engagiert, sowie weitere behinderte Dozenten und Ehrenamtliche haben sich bereit erklärt, eine App zu entwickeln.

12 Uhr. Maram wird abgeholt und zurück in die Unterkunft gebracht. Wenn ihrem Antrag auf eine barrierefreie Sozialwohnung stattgegeben wird, könnte Maram auch einen Rollstuhl mit Elektroantrieb bekommen, den sie mit ihrem Fuß steuern kann. So ein Rollstuhl, die Leselupen oder orthopädische Schuhe werden benötigt, ebenso wie Geld für Fahrdienste: Gerade im Winter ist die Fahrt mit den Öffentlichen für Rollstuhlfahrer sehr beschwerlich – jedoch übernehmen weder das zuständige Bundesamt noch das Jobcenter die Kosten für ein Taxi oder einen Begleitservice. Maram hat Glück, dass Ehrenamtliche sie begleiten können. Und dann ist da noch Hassan, der seine Kameradin unterstützt.

Text und Foto: Anna-Elena Knerich

Neuland: Livia Kerp

Das “Forum Kinderrechte” ist nur eine Plattform, auf der man Livia Kerp aktuell antrifft. Die umtriebige Bloggerin setzt sich engagiert für Kinderrechte ein und war zuletzt sogar an der Wahl zum Jugendwort des Jahres beteiligt.

Was macht ein gutes Leben für Kinder und Jugendliche aus? Was können Politik und Gesellschaft tun, um dieses zu ermöglichen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Junior-Bloggerin Livia Kerp, 15, schon länger: Seit zwei Jahren schreibt sie auf ihrem Blog über die Dinge, die Jugendliche bewegen und auch angehen – etwa das Schulsystem oder Umweltschutz – und konnte dazu schon Politiker wie Cem Özdemir oder Christian Lindner interviewen. Am 20. November hat die 15-Jährige nun mit Emilia Müller, der bayerischen Staatsministerin für Arbeit und Soziales, Familie und Integration, über diese Themen sprechen können: beim „Forum Kinderrechte“ im Maximilianeum. Schließlich können Jugendliche wie Livia die Fragen, um die es bei der Veranstaltung von Kinderkommission und Kinderschutzbund gehen soll, viel besser beantworten als Politiker oder Wissenschaftler. Ebenso wie die Frage, welches das „Jugendwort des Jahres 2017“ sein soll: „I bim’s“ ist es nun geworden, und darüber hat die Bloggerin gemeinsam mit der Jury abgestimmt. Für ihr Engagement ist Livia Kerp zuletzt mit dem Platz des Com.mit-Awards „für junge Mutbürger“ belohnt worden. 

Text und Foto: Anna-Elena Knerich