Der Verein ghettokids kümmert sich um Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen – für Schulmaterialien, Mahlzeiten und Medikamente fehlt allerdings oft das Geld.
Eine Sofaecke, Bücherregale, die bis an die Decke reichen, Nähmaschinen und bunte Jalousien: Der neue Raum des Vereins ghettokids ist ziemlich heimelig dafür, dass es sich um eine ehemalige Lagerhalle handelt. „Ist das geil!“, sagt der 14-jährige Fabian (alle Namen der Jugendlichen geändert), als er und vier Klassenkameradinnen den Kellerraum zum ersten Mal betreten. Sie sind direkt nach dem Nachmittagsunterricht vom Hasenbergl hierher gekommen. Susanne Korbmacher, die Gründerin und Vorsitzende des Vereins, hat für sie frische Brezen, Plundertaschen und Rinderschinken vom Bauernhof besorgt. Als sie die fünf Jugendlichen fragt, ob sie heute schon was gegessen hätten, lautet die einstimmige Antwort: „Nein“. Es ist halb fünf am Nachmittag.
Doch erst müssen die hungrigen Teenager ordentlich den Tisch decken, darauf legt Susanne Korbmacher Wert. Sie ist Studienrätin an der Förderschule und Beraterin für Migration im Auftrag der Regierung Oberbayerns, unterrichtet Deutsch als Zweitsprache, hat eine therapeutische Ausbildung – und 31 Jahre Erfahrung im Umgang mit sozial benachteiligten Kindern. Für ihr unermüdliches Engagement erhielt sie etliche Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz. Vor allem aber – und das ist während des gemeinsamen Essens deutlich spürbar – hat die Pädagogin einen besonderen Draht zu den Jugendlichen. „Frau Korbmacher ist nicht wie die anderen Lehrer. Sie hat viele Ideen im Kopf, und sogar der Unterricht macht bei ihr Spaß“, erzählt Fabian. Der zierliche Kosovo-Albaner hat vor Kurzem ein Praktikum in einem Hotel gemacht und könnte sich gut vorstellen, mal an der Rezeption zu arbeiten. Dafür brauche er aber einen Schulabschluss, erinnert ihn seine Lehrerin, ohne dabei belehrend zu wirken. „Wisst Ihr, warum ich darauf so Wert lege?“, fragt sie mit ihrer rauchigen Stimme in die Runde. „Weil wir Ihnen wichtig sind“, antwortet Fabian. Die schwarzhaarige Frau klatscht mit ihm ab: „Genau! Und ich weiß, dass ihr alle top seid.“
Alle fünf Jugendlichen kommen aus gesellschaftlichen Gruppen, die es schwer haben: Familien mit vielen Kindern, Migrationswurzeln oder alleinerziehenden Elternteilen – „wo das Geld ab dem 21. eines Monats knapp ist und die Kinder öfter krank sind“, sagt Susanne Korbmacher.
Doch sie glaubt fest an ihre „Ghettokids“. Über den Verein kam die 15-jährige Aylin an ein Praktikum beim Bavaria Filmpark, und auch wenn sie dort nicht wie erhofft Elyas M’Barek traf, gefiel es ihr – sie durfte bei Drehs sogar die Kamera und Mikros halten. „Obwohl ich immer dachte, ich wäre zu doof dafür“, sagt Aylin schüchtern. Solche Minderwertigkeitskomplexe versucht Susanne Korbmacher, die selbst in schwierigen Verhältnissen aufwuchs, zu unterbinden: „Ich will ihnen die Kraft geben, sich alleine herauszustrampeln. Und wenn sie es nicht schaffen, reiche ich ihnen eine Hand.“ Durch den Verein ghettokids, die kooperierenden Schulen sowie viele Ehrenamtliche und Förderer erhalten die Jugendlichen Unterstützung: Beim Bildungssupermarkt „Bilsuma“ kriegen sie Lernmaterialien, in Lerncamps bereiten Lehrer sie ehrenamtlich auf den Schulabschluss vor, das Tech-Unternehmen Intel organisiert PC-Kurse.
Der Verein verfolgt dabei eine Philosophie: „Wenn man kostenlos Materialien bekommt, soll man dafür irgendetwas zurückgeben – und sei es nur, immer pünktlich zu erscheinen“, erklärt Benjamin Adler, der aus einer Sinti-Familie stammt und früher selbst am ghettokids-Projekt teilnahm. Er war einer der wenigen, die danach Abitur gemacht und ein Studium begonnen haben. „Ich habe schon immer Nachhilfe gegeben und arbeite heute auch im sozialen Bereich“, sagt er. Außerdem ist er zweiter Vorsitzender des Vereins. Geben und Nehmen.
Am wichtigsten sei jedoch die Art von Bildung, die die Kinder im Hasenbergl nicht bekämen – Bildungsfahrten in die Berge, zu Schlössern oder in den Zoo, sagt Susanne Korbmacher. „Und natürlich Kunstprojekte!“ Bei diesen Worten freuen sich die Jugendlichen: „Malen mit Frau Korbmacher macht so Spaß!“ Die 15-jährige Sophia ist so begabt, dass der Verein ihr nicht nur Leinwände und verschiedene Farben zur Verfügung stellt, sondern auch eine Teilnahme an der Jugendkunstakademie ermöglichte. Ihr Berufswunsch heute: Maskenbildnerin. „Für Horrorfilme“, sagt sie und grinst.
Im Sommer waren sie alle auf Bildungsfahrt in der Wildschönau – für viele der erste Ausflug in die Berge. „Davor kaufte Frau Korbmacher mit uns ein, Wanderschuhe und so etwas“, sagt Aylin. „Und dann mussten wir immer wandern“, sagt die 16-jährige Justine. Die Teenager kichern. Eigentlich habe das schon Spaß gemacht. „Aber am coolsten war das Outdoor-Painting, als wir Leinwände auf eine Wiese stellten und die Berge abmalten“, sagt Fabian. Finanziell unterstützt hatte das Ganze die Phoenix Foundation, die auch die Miete der neuen Räumlichkeiten des Vereins übernimmt. „Jetzt müssen wir den Raum nur noch mit Leben füllen: Ich will einen Deutsch-Intensivkurs anbieten, und bald startet hier ein Nähkurs“, sagt Susanne Korbmacher. Die Nähmaschinen sind gespendet worden – wie so vieles bei ghettokids: „Für die ganzen Schulmaterialien, Mahlzeiten und Medikamente brauchen wir Spenden.“ Die Eltern könnten ihren Kindern meist nicht einmal die Busfahrkarte finanzieren.
Am Ende hat sie noch eine Überraschung für jeden: ein Fotobuch mit den schönen Erlebnissen in den Bergen. Die Mädchen pressen es an sich wie einen Schatz. „Die Fahrt hat uns alle verändert“, sagt Aylin leise. „Ich wünschte, wir könnten so etwas öfter machen.“
Text und Foto: Anna-Elena Knerich