Vom Trainspotter zum Trambahnfahrer: Mehr als 17000 Fotos hat Sebastian Sorgalla, 21, bereits von Zügen gemacht. Über einen, der genau Bescheid weiß, was auf Münchens Schienen unterwegs ist.
Von Katharina Horban
Sein Blick schweift über die Gleise. Von links nach rechts und wieder zurück. Die Kamera auf dem Schoß, die Hände am Trageriemen. Sebastian Sorgalla, 21, sitzt am Bahnsteig des Münchner S-Bahnhofs Berg am Laim. Die Station hat er sich ausgesucht, weil hier alle Züge auf der Strecke von München nach Österreich durchfahren. Die S-Bahn kommt, doch er steigt nicht ein. Denn Sebastian ist kein Fahrgast, er ist Trainspotter. Das heißt, er beobachtet hobbymäßig Schienenfahrzeuge und fotografiert sie. Mit einer S-Bahn gibt er sich nicht zufrieden, er wartet auf außergewöhnlichere Züge. Warten muss Sebastian oft bei seinem Hobby, deshalb ist er wohl auch bequem gekleidet: Turnschuhe, kurze Jogginghose, Hoodie. Die Haare hat er zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. An diesem Tag wird er rund 200 Bilder machen: vom österreichischen Fernverkehrszug Railjet, von der ältesten Münchner S-Bahn, von einem ICE – und von einem gelben Gefährt, von dem er selbst erst nicht weiß, was es eigentlich ist. Mehr als 17 000 Fotos hat Trainspotter Sebastian in den vergangenen sechs Jahren in seinem Archiv angesammelt. Warum das Ganze?
Seine Leidenschaft sind Schienenfahrzeuge. Sebastians Hobby fristet bei weitem kein Nischendasein, es reicht bis in das England des 19. Jahrhunderts zurück: So heißt es vom „National Railway Museum“ im nordenglischen York, dass sich schon in Tagebüchern und Briefen aus 1841 erste detaillierte Beobachtungen über Eisenbahnen finden. 1942 kam dem Verleger Ian Allan, der damals in der PR-Abteilung der britischen Eisenbahngesellschaft „Southern Railway“ arbeitete, eine Idee, die das England der Nachkriegszeit verändern sollte: Er veröffentlichte das erste ABC-Spotter-Buch, was zu einem regelrechten Boom der Szene führte. 1948 wurde der Ian Allan Locospotters’ Club gegründet, um gleichgesinnte Trainspotter miteinander zu verbinden. Der Daily Telegraph schreibt in seinem Nachruf über den 2015 verstorbenen Allan, erst durch ihn hätten die Schuljungen der Nachkriegszeit gelernt, mit Begeisterung Züge zu beobachten. Heute sind Trainspotter über die ganze Welt verteilt – auch in München. „Schon früher als kleines Kind war ich fasziniert von Zügen, so wie es eigentlich jedes Kind ist. Mit meinem Vater habe ich Touren durch München gemacht“, sagt Sebastian. Als sie mit S-Bahn, U-Bahn und Straßenbahn fuhren, wollten sie an keinen bestimmten Ort, ihr Ziel hatten sie schon erreicht – sie wollten auf Münchens Schienen unterwegs zu sein: „Die Trambahn hat es mir schon als Kind angetan.“
Nachdem Sebastian viele Jahre später seine Ausbildung als Landschaftsgärtner abgebrochen hat, zieht es ihn beruflich dann doch auf die Schienen: Er entscheidet sich im Sommer 2017 für eine dreijährige Ausbildung als Fachkraft im Fahrbetrieb in der Fachrichtung Straßenbahn bei den Stadtwerken München. Seit Ende Juli 2020 arbeitet Sebastian als Trambahnfahrer bei der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG). Warum gerade die Tram? „Mit den hohen Geschwindigkeiten habe ich es generell nicht so. Die Trambahn taugt mir eher. Die hat Autotempo, ist gemächlich und ruhig.“In seiner freien Zeit ist Sebastian so oft wie möglich unterwegs: Hat er während der Woche eine Pause von drei bis vier Stunden, fährt er etwa zum Heimeranplatz. An den Wochenenden stellt er sich zum Fotografieren an den Effnerplatz mit der Skulptur Mae West, den Landtag oder auch den Promenadeplatz nahe der Theatinerstraße. Aber auch an der freien Strecke, also zwischen zwei Bahnhöfen, packt Sebastian seine Kamera aus: „Aber natürlich mit ausreichend Sicherheitsabstand, nicht illegal und so, dass ich den Betrieb nicht gefährde. Deshalb habe ich auch immer eine Warnweste in meinem Rucksack.“Aber woher weiß Sebastian, wo er sein muss, um einen bestimmten Zug zu fotografieren? In Sichtungsgruppen auf WhatsApp und in diversen Internetforen gibt es jeden Tag zig Übersichten, welcher Zug zum Beispiel wann wo entlangfährt.
Die Österreichische Bundesbahn etwa bietet einen Lok-Finder für bestimmte Folierungen, also mit Werbezügen und anderen Sprüchen beklebte Lokomotiven, an. Doch Sebastian sagt, während er auf den nächsten Zug in Berg am Laim wartet, auch: „Manchmal fahre ich in die Stadt und stelle mich auf gut Glück an die Strecke. So wie jetzt. Mittlerweile fotografiert Sebastian längst nicht mehr nur für sich: Auf Instagram teilt er seit 2016 als „trainspotter_munich“ die besten Bilder mit seiner Community, die sich mittlerweile auf fast 6000 Follower beläuft. Jeden Tag lädt der 21-Jährige dort ein Bild hoch. Langweilig? In München nicht unbedingt – bei sieben verschiedenen Straßenbahntypen, vier U-Bahn-Baureihen, zwei S-Bahn-Modellen und vielen anderen Zügen. Unter jedem Post steht das Datum, die genaue Uhrzeit, der Aufnahmeort und meist auch der Zielbahnhof des jeweiligen Schienenfahrzeugs: Denn die Community mag Details. Davon sind 91 Prozent männlich, Frauen sind in der Szene immer noch eine Ausnahme. Auf seinem zweiten Account bloggt Sebastian seit 2019 als „tramdriver_munich“ über den Alltag als Tramfahrer-Azubi und seit kurzem als fertig ausgebildeter Tramfahrer.
So möchte er einen Einblick geben in einen aus seiner Sicht oft zu Unrecht kritisierten Beruf. Dort finden sich nur Aufnahmen von Straßenbahnen – und auch viel Frust von Münchnern über den öffentlichen Nahverkehr. „Ich bekomme regelmäßig Beschwerden wegen Verspätungen und Baustellen. Da denke ich mir, dass sich das alles gegenseitig bedingt. Die Straßenbahn fährt auf der Straße und wird eben auch von Baustellen und dem Autoverkehr behindert“, sagt Sebastian. Freude machen ihm vor allem zwei Dinge: Wenn sich Fahrgäste etwa beim Aussteigen bedanken – und wenn er beim Trainspotting unerwartet eine Rarität vor die Linse bekommt. So auch an diesem Tag, als Sebastian von seinem Sitz aufspringt und ein gelbes Gefährt fotografiert. Er dreht sich um und sagt erstaunt: „Sorry, aber was war das denn? Ich habe keine Erklärung. Okay, das war cool.“ Nach sechs Jahren Trainspotting hat er so etwas noch nie gesehen. Es war ein Fahrzeug zur Fahrtweginstandhaltung beziehungsweise ein Zweiwegefahrzeug, das sowohl auf der Straße als auch auf den Gleisen fahren kann. Sebastian ist begeistert: „Das ist der Reiz am Trainspotting. Die Überraschung, was vorbeikommt, bleibt immer.“