Nikita Gibalenko, 26, wuchs in der Ukraine auf. Früher kämpfte er im Fight Club, heute ist es ihm wichtig, sich auch mal verletzlich zu zeigen. Auch in seinen Filmen geht es um Emotionen
Von Eva Klotz
Nikita Gibalenko ist Geschichtenerzähler. Und es sind ein paar Minuten einer Geschichte in Schwarz-Weiß, die Nikita Gibalenkos Leben grundlegend verändern werden. Ein von ihm gedrehter Kurzfilm, inspiriert von der Lebensgeschichte seines Großvaters. Kurz vorher war der junge Mann in seine Heimat gereist, in die Ukraine, um seine Familie zu besuchen. Sie verabschiedeten sich – und einen Tag später starb der Großvater. Der harte, strenge Mann, der zu Nikita immer vorsichtiger war als zu allen anderen Familienmitgliedern. Es schien so zu sein, als ob der Großvater auf ihn gewartet hätte. Deshalb sollten diese wichtigen Minuten, dieser Film ihm gewidmet sein.
Nikita, 26, reichte den Film an der Hochschule für Film und Fernsehen in München (HFF) ein. Und wurde als einer von neun unter mehr als 300 Bewerbern aufgenommen. Jetzt lernt er Regie. Davon erzählt Nikita mit ruhiger Stimme und klarem Blick auf einer Dachterrasse in München, das Stadtpanorama im Hintergrund leuchtet golden in der Abendsonne. Er trinkt schwarzen Tee, trägt eine schlichte Jeansjacke. Und er kann viel erzählen von einem Leben, in dem sich schon einiges verändert hat, das selbst oft filmreif war.
Eine solche Geschichte ist sein Anfang hinter der Kamera, der erste große Moment der Veränderung in seinem Leben. Als Jugendlicher probiert er viel aus, schreibt Rap-Songs, in denen er seine Erlebnisse verarbeitet und die er auf Battles vorträgt, als Mutprobe. Ein Erzähler ist er also schon immer. Wegen der Musik lerntFschen Universität , in der er alleine war und sich oft einsam fühlte. Und in der Welt des Theaters sind die Grenzen zwischen Kollegen und Freunden oft fließend.
Seiner Familie erzählt er nichts von seinen Filmen, das bleibt lange Jahre so. Wenn er etwas dreht, deutet er es höchstens an. Bis er 20 Jahre alt ist, wächst er in Kiew auf. In einer Ingenieursfamilie – der Großvater war Abteilungsleiter in einem größeren Betrieb, die Großmutter saß noch an der Schleifmaschine. Da ist ein Leben für den Film schwer vorstellbar. Er fügt sich der Tradition und einem autoritären Vater und studiert Maschinenbau. Auch aus Ermangelung eines anderen Plans – denn als er das Abitur macht, ist er erst 16. Aus Lust auf Veränderung kommt er nach München an die TU, vor allem wegen des guten Rufs der Universität. Mittlerweile wohnt er seit sechs Jahren in der Stadt und spricht Deutsch fast ohne jeden Akzent.
München war ihm anfangs fremd, er kommt aus einem anderen Umfeld. Davon will er in Filmen erzählen. Von dem Männerbild etwa, mit dem er aufwuchs. Denn in der Ukraine herrschen immer noch andere Vorstellungen und Erwartungen als in Deutschland. Ein Rollenbild von Männern, in dem körperliche Stärke, romantisierte Gewalt und Draufgängertum wichtig seien, um sich vor anderen zu profilieren, wie er sagt. Als Jugendlicher passt er sich an, spielt die von ihm erwartete Rolle, lernt Kampfsport und geht in den Fight Club. In einen echten Fight Club, der wirkt wie aus der Zeit gefallen, mit Kämpfen im Wald, ohne den Namen der anderen zu kennen, ohne Regeln. Bis einer aufgibt.
Warum wollte er Teil davon sein? Bei dieser Frage hält er kurz inne. Aber er kann es erklären. Es sei das gewesen, was andere ihm vorgelebt hätten. Aber auch Neugierde, das Kämpfen wie ein sadistisches Spiel zu betrachten, wie ein Kind, das Dinge zerstört, um zu sehen, wie das ist. „Lebenslust“ nennt er das auch, obwohl es dabei ums Zerstören geht. Diese Episode erscheint ihm selbst beim Erzählen fast unwirklich zu sein.
Von seiner Zeit im Kampfsport ist heute an seiner schmalen Statur nichts zu erkennen, höchstens an den kurz rasierten Haaren. In seinem Umfeld interessiert sich heute keiner mehr für das Kämpfen. München sei so viel friedlicher, hier könne man sich verletzlich zeigen, sagt er. Geblieben ist ihm nur eine Freude am Sport. Er geht gerne klettern. Und sein Interesse am Leben, am Erfassen und Spüren der Welt um ihn, das er heute in Filme übersetzt.
„Ich definiere mich schon über meine Arbeit“, sagt er. Das wird spürbar am Set. Er erzählt, dass er manchmal zurück in alte Muster aus seiner Zeit im Kampfsport verfalle. Dort ist er autoritärer als im Alltag. Dann gibt es klare Aufgaben. In der oft Monate dauernden Vorbereitungsphase dürfen natürlich auch andere Vorschläge machen, am Set selbst aber, da ist er konservativ. Dann herrscht Arbeitsatmosphäre. Er schläft dann oft mehrere Nächte nicht. Die Projekte sind ihm wichtig. Und jede Minute im Film ist teuer und muss am Anfang aus eigener Tasche finanziert werden.
Den Gegensatz zwischen Maschinenbau und Film, den kann er klar benennen: Es geht im Film um Menschen und um Emotionalität. Ingenieure dagegen haben Freude am Machen, an der Herstellung materieller Dinge. Dabei sollten möglichst keine Konflikte entstehen, bloß kein Drama. Nikita aber will nachhaken. Und er will kein Zahnrad in einem jahrelangen Prozess sein, in dem Projekte oft viele Jahre dauern. Sondern Ergebnisse sehen, verantwortlich sein für Dinge. Und: Geschichten erzählen. Das heißt nicht, dass er sich der negativen Seiten nicht bewusst ist. „Natürlich ist der Film auch ein Egospiel, es gibt viel Hype. Man braucht schon eine gewisse Stabilität dafür.“ Hat er die? „Kommt drauf an, ob ich ausgeschlafen bin“, sagt er nur. Dann lacht er.
Eigentlich ist ihm also sein Traum vom Filmen schon lange klar. Trotzdem beendet er das Studium, beginnt in einem Start-up zu arbeiten, das Wellenkraftwerke entwirft. Er muss schließlich sein Leben finanzieren. Also bringt er Glühbirnen zum Leuchten und entwirft Simulationen statt Szenen und Stimmungen. Nach langen Tagen im Büro geht die Arbeit zu Hause weiter. Er macht nebenbei immer Filme, Trailer für Theaterstücke zum Beispiel, in denen in kurzer Zeit die Grundstimmung der Werke transportiert werden soll. Er finanziert sie aus eigener Tasche und organisiert alles nach Feierabend und am Wochenende, seine gesamte Freizeit nimmt das in Anspruch. Er kommt an seine körperlichen Grenzen. „Leben kommt da nicht infrage. Ich habe gemerkt, dass man sich nur auf eine Sache konzentrieren sollte“. Und er will nicht jeden Tag bis 18 oder 20 Uhr warten, um seine Geschichten voranzubringen. So kann es also nicht bleiben, er muss sich entscheiden.
Er wählt den Film. An der HFF haben schon Menschen wie Doris Dörrie ihr Handwerk gelernt. Und zwischen seinen beiden Lebensabschnitten, dem Ende des Jobs und dem Beginn des Filmstudiums, lag nur eine Woche. Eine Befreiung. „Darauf habe ich lange gewartet.“ Jetzt gewöhnt er sich an ein Leben für den Film. In drei Tagen lerne er jetzt so viel wie in fünf Monaten alleine mit seinen Fachbüchern.
Und es gibt noch viel zu lernen: „Ich möchte mich weniger ernstnehmen. Lernen, Dialoge zu schreiben, und eine richtig gute Komödie, die gesellschaftskritisch ist. So, dass man lacht, aber mit einem bitteren Unterton.“ Seine Familie, die früher wenig von ihm wusste, reagiert überraschend annehmend, der große Name der Schule tut seinen Teil dazu.
Mit seinen Eltern spricht er jetzt viel mehr als früher. Als sie ihn vor kurzem besuchten, wurde aber auch deutlich, dass er mittlerweile in München angekommen ist. In seiner Muttersprache Ukrainisch formuliert er inzwischen Sätze, die eher der deutschen Sprache ähneln. Abends ist er derzeit oft noch mit Mitstudierenden unterwegs. Sie gehen etwas trinken oder zusammen klettern. Die Tage sind voll, aber ganz anders als früher. Arbeit gibt es trotzdem genug, und zu sich selbst ist er oft streng, wenn viel zu tun ist. „Da habe ich schon immer noch etwas von meinem Großvater in mir.“