Seit 2018 lebt Mina Stefanovic in München. Obwohl sie selbst Unterstützung bräuchte, hilft sie anderen. Sie sammelt Geld für kranke Kinder und rettet so Leben. Jetzt wurde die Doktorandin mit dem DAAD-Preis ausgezeichnet
Sechs Stunden verbringt Mina Stefanovic an ihrem ersten Tag in München in der Behörde. Die Stadt ist ihr fremd, sie kennt niemanden. Mina wartet und wartet. Einen Termin im Kreisverwaltungsreferat hat sie nicht. Es geht um ihr Visum. „Und dann habe ich erfahren, dass ich beim falschen KVR war“, sagt die heute 26-Jährige. Eigentlich hätte sie damals selbst Hilfe gebraucht. Aber während sie sich einlebt, hilft sie jemand anderem. Sie gibt ihre Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie und der deutschen Sprache an eine etwa gleichaltrige Frau aus Eritrea weiter. Außergewöhnlich kommt ihr das nicht vor. Seit November 2018 arbeitet sie beim Projekt „Willkommen“ von Refugio München mit. Das fast schon Absurde dabei: Mina aus Serbien hilft der Geflüchteten aktuell bei der Wohnungssuche. Darüber sagt sie nur: „In München ist das echt schwer.“
Ihre meiste Zeit in München verbringt Mina im Schweinchenbau, dem rosafarbenen Uni-Gebäude in der Leopoldstraße 13. Seit Oktober 2018 ist sie Doktorandin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der LMU München und beschäftigt sich mit der Netzwerkanalyse von posttraumatischen Belastungsstörungen. In zahlreichen Projekten hat sie sich engagiert, so wie eben zurzeit bei Refugio München. Und seit 2018 rettet sie mit Spendenaktionen mehreren Kindern aus der Ukraine, Russland, Mazedonien und Nicaragua, die eine lebensnotwendige Operation brauchen, das Leben.
Auch für diese Aktionen hat sie kürzlich den DAAD-Preis gewonnen, der jedes Jahr ausländische Studierende mit exzellenten wissenschaftlichen Leistungen und sozialem oder hochschulpolitischem Engagement auszeichnet. Was treibt sie bei all dem an? Sicher ist zumindest: Ein Krieg bestimmt ihr Leben. Denn wegen der Erlebnisse, die sie als Fünfjährige gemacht hat, weiß sie, dass Psychologie sie interessiert – und dass sie Menschen helfen will.
Aufgewachsen ist sie in Vršac im Nordosten Serbiens nahe der rumänischen Grenze. Als der Kosovo-Krieg beginnt, darf sie nachts im Keller Fahrrad fahren. Gewohnte Regeln gelten für die damals Fünfjährige nicht mehr, die Schlafenszeiten sind anders. Mit ihren Eltern kommt sie von März bis Juni 1999 jede Nacht in einem anderen Keller von befreundeten Familien unter. Der Krieg, an den sich die heute 26-Jährige erinnert, ist der Nato-Luftangriff gegen Serbien: „Krieg und Trauma waren immer Teil meines Lebens.“ 78 Tage dauerte der Kosovo-Krieg, mit dem die Nato die Vertreibung und Ermordung der albanischen Bevölkerung stoppen wollte. Es war der erste Kampfeinsatz des Militärbündnisses und der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Völkerrechtlich ist die Intervention bis heute umstritten.
Wegen all dem ist Helfen für Mina selbstverständlich. Die Frage nach dem Warum stellt sich ihr nicht: Wenn es ihr gut gehe und sie glücklich sei, dann könne sie das doch nicht für sich behalten. „Ich habe mich schon immer freiwillig engagiert. Am Anfang war es schwer für mich in München. Ich kannte noch nicht viele Leute. Deshalb wollte ich die Zeit nutzen und helfen“, sagt Mina. Sie kommt gerade aus dem Büro und trägt den klassischen Office-Look, ein schwarzes Kleid und einen türkisfarbenen Blazer. Die Strähnen ihrer braunen Haare hat sie auf beiden Seiten ihres Gesichts mit Haarklammern festgesteckt.
Dass sie in Deutschland promovieren würde, war Mina, die im Juni 2018 ihren Master in Psychologie an der Universität Novi Sad abgeschlossen hat, lange klar: „Deutschland ist die Wiege der Psychologie.“ Thomas Ehring, Inhaber des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie und Minas Doktorvater, fordert sie in den ersten Monaten immer wieder auf, Deutsch zu sprechen, und bestärkt sie darin, der Sprache eine Chance zu geben. Gar nicht so leicht, in der Arbeit sprechen alle Englisch und ihre Forschung macht Mina auch in dieser Sprache. Auch deshalb sagt die 26-Jährige: „Die Mina von vor zwei Jahren war ein anderer Mensch. Sie war schüchtern. Wir lernen uns selbst kennen, wenn wir allein im Ausland sind.“
Scheu, Deutsch zu sprechen, hat sie heute keine mehr. Sie spricht drauf los, sucht nicht nach Wörtern – und ja, sie macht immer wieder Fehler. Ehring sagt über seine Doktorandin: „Sie zeigt ein sehr hohes Interesse an psychologischer Forschung und verfolgt ihre Promotion wirklich mit einer beeindruckenden Einsatzbereitschaft.“ Wie sich Mina außerhalb des Büros für Menschen einsetzt, davon wusste er lange nichts: „Mina ist ein sehr bescheidener Mensch und geht damit nicht hausieren. Ich habe eher zufällig von diesem Engagement erfahren. Es hat mich sehr beeindruckt.“
Begonnen hat dieses Engagement zufällig an einem Strand: Während Mina im Sommerurlaub 2018 in Spanien auf einer Liege am Strand liegt, spielt neben ihr ein kleines Mädchen und kommt ihr immer näher. Mina sieht, dass es eine Narbe auf Höhe des Herzens hat. Dort, wo Mina im Urlaub ist, macht das Mädchen eine Therapie. Von der Mutter erfährt Mina, dass ihre Tochter nach einer ersten Herz-Operation noch zwei weitere lebensnotwendige Eingriffe benötigt. Die Familie kann sich das aber nicht leisten und hat eigentlich schon aufgegeben. Mina glaubt nicht, dass man gar nichts unternehmen könne: „Ich habe zur Mutter gesagt, dass diese Operationen doch irgendwo auf der Welt möglich sein müssen.“
Und so beginnt das Spendensammeln: Mina schaut sich die medizinischen Akten des Mädchens an und findet heraus, dass die zwei Operationen rund 100 000 Euro kosten – ohne Flug, Visum und Hotelkosten. Sie verfasst eine Muster-Mail, verschickt sie etwa 200 Mal an mögliche Spender wie Stiftungen und Hilfsorganisationen. Es dauert etwa fünf Monate, um die 42 000 Euro für die erste Operation zu sammeln – dank Großspenden wie von der Hilfsorganisation „Ein Herz für Kinder“ und Crowdfunding. Auch das Geld für die zweite Operation kann Mina sammeln. Das Mädchen wird schließlich in München operiert. Dieser Erfolg spricht sich herum: Familien mit kranken Kindern aus der Ukraine, Russland, Mazedonien und Nicaragua, die das Mädchen mit seiner Familie aus der gemeinsamen Zeit im Krankenhaus kennen, kontaktieren sie mit der Bitte, Geld für Operationen und Krebsbehandlungen zu sammeln.
All das braucht Zeit – und Geld: Um mit Krankenhäusern und möglichen Spendern in Kontakt zu treten, muss Mina offizielle medizinische Dokumente übersetzen. Oft kann sie die jeweilige Landessprache nicht. Übersetzer bezahlt sie in solchen Fällen manchmal selbst. Deshalb hat sie einen Plan: „Ich möchte einen Verein gründen, aber das ist schwer für mich. Ich tue mich schwer, die Gesetze zu verstehen.“
Nicht mal ihren Eltern hat Mina erzählt, dass sie Leben gerettet hat. Als sie den DAAD-Preis gewinnt, kommt das Ganze heraus. Mina sagt: „Alle waren sehr überrascht. Natürlich hätte ich das herumerzählen können, aber ich denke: Wir sollen anderen helfen, ohne damit anzugeben. Ich war nicht so wichtig in dieser Geschichte.“ Es ging ihr um die Kinder.
Von Katharina Horban