Samh Yousef / Foto: privat

Der richtige Zeitpunkt

Vor vier Jahren floh Samh Yousef, 26, vor dem syrischen Bürgerkrieg. Heute engagiert er sich für andere Geflüchtete, denn er weiß: Ohne Hilfe geht es nicht

Von Moritz Richter

Es war kalt und dunkel. Samh Yousef fror, er war erschöpft, trotzdem humpelte er weiter. Irgendwo im Niemandsland nahe der Kleinstadt Qamischli, an der syrisch-türkischen Grenze. Seit drei Tagen versuchte er, die Grenze zur Türkei zu überqueren, um den Bürgerkrieg im eigenen Land hinter sich zu lassen. Seine Familie hatte die letzten Ersparnisse zusammengekratzt, um ihn vor der Einberufung in die syrische Armee zu bewahren und die Flucht zu finanzieren. Bis hierher hatte Samh es geschafft, doch sein Bein, das er sich bei einem Sturz am Vortag gebrochen hatte und das nur notdürftig behandelt war, schmerzte höllisch. Er konnte nicht mehr. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Vier Jahre später sitzt Samh in einem Café nahe der LMU in München. Er ist mittlerweile 26 Jahre alt, ein ruhiger, gepflegt aussehender Mann mit schwarzem, leicht gekraustem Haar. Er erzählt seine Geschichte mit leiser, aber klarer Stimme. „Ich glaube, manchmal ist es einfach das Schicksal, das entscheidet, was man macht und wohin man gehen muss. Und manchmal bringt dir das Schicksal auch einfach die richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt im Leben“, sagt er mit einem Lächeln. Damals in Syrien, so kurz vor der Grenze, waren die richtigen Menschen zwei Männer, die ihm auf der Flucht begegneten, ihn auf den letzten Metern in die Türkei stützten, vor der endgültigen Ohnmacht bewahrten und in einem Auto mitnahmen. So gelangte Samh nach Istanbul. Und letztlich auch nach München.

Hier studiert Samh seit drei Semestern Deutsch als Fremdsprache an der LMU. Er lebt in einer Wohnung mit Garten, er verdient seinen Lebensunterhalt und hat eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Man könnte sagen, Samh ist ein Musterbeispiel für gelungene Integration. Dass er es so weit geschafft hat, ist nicht selbstverständlich. Viele Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, haben niemanden und sind komplett auf sich allein gestellt. Samh sagt: „Ich hatte wirklich Glück. Ich hatte Menschen, die mir geholfen haben und die mich unterstützt haben, als es mir schlecht ging.“ Und er weiß aus eigener Erfahrung, wie überfordernd die Ankunft in Deutschland für viele Geflüchtete ist und wie viel Kraft es kostet, in dieser Situation nicht einfach aufzugeben.

Deswegen engagiert er sich bei einer ganzen Reihe von Organisationen für Geflüchtete. Gerade ist er beispielsweise als Kulturmoderator beim Verein Brückenbauen aktiv, der Migranten bei der Integration unterstützt. Er hat auch schon Deutsch bei der Münchner Organisation Students4Refugees unterrichtet oder bei der Organisation Translaid als Dolmetscher gearbeitet. Er hat Geflüchtete bei Behördengängen oder zum Arzt begleitet. Denn ohne Dolmetscher kann da schnell einiges schief laufen: „Ich habe schon erlebt, dass jemandem der falsche Zahn gezogen wurde, weil der Zahnarzt ihn nicht richtig verstanden hat. Und der Zahn hätte eigentlich gar nicht rausgemusst“, sagt Samh.

Auch für die Migrantenzeitung Neuland schreibt Samh regelmäßig Artikel, um anderen Geflüchteten von seinen Erfahrungen zu berichten und diese so besser auf die kulturellen Unterschiede in Deutschland vorzubereiten. Das können auch leichtere Themen wie Flirten sein: „Ich hatte mal eine Frau kennengelernt und dann zu ihr gesagt: ,Du hast so ein Mondgesicht.‘ Bei uns ist das eine Metapher für Schönheit, aber sie war total empört“, sagt Samh und grinst.

Doch nicht bei allen Erinnerungen ist Samh zum Lachen zumute. Zwischenzeitlich war es extrem hart für ihn. Als er Anfang 2016 in München ankam, sprach er kein einziges Wort Deutsch. Nachdem er bei Passau an der deutschen Grenze von Polizisten aufgegriffen worden war, begann für Samh eine Prozedur, die viele Geflüchtete in Deutschland durchmachen: Zuerst verbrachte er einige Wochen in einer Aufnahmeeinrichtung im Münchner Stadtteil Milbertshofen. Dann wurde er weiter nach Neubiberg geschickt, in eine Traglufthalle, wie sie in Deutschland im Sommer 2015 nach Angela Merkels „Wir schaffen das“ in Massen aufgepumpt wurden.

Dort war er mit circa 200 Geflüchteten aus verschiedenen Ländern untergebracht. „Die Lage war sehr schlimm, man konnte da kaum wohnen. Mein Zimmer war direkt neben der Toilette, der Geruch war echt nicht auszuhalten“, sagt Samh. Er fühlte sich verloren und alleingelassen. Sein einziges Ziel zu diesem Zeitpunkt: So schnell wie möglich die deutsche Sprache lernen. Deshalb besuchte er einen der Sprachkurse, die in der Unterkunft angeboten wurden, bekam dort aber nur Grundlagen und die wichtigsten Wörter beigebracht. „Man hat da nur gelernt, was ‚Apfel‘ und was ‚Banane‘ heißt. Aber das war nicht mein Ziel, ich wollte mehr.“

Er wollte in der Lage sein, zu arbeiten und sich ein neues Leben aufzubauen. „Ich war komplett auf mich allein gestellt und konnte nichts machen“, sagt er, „ich habe ein Ziel gebraucht, um irgendwie weiterleben zu können.“ Durch Zufall erfuhr er, dass man beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch vor endgültiger Klärung des Aufenthaltsstatus einen Antrag auf einen vorzeitigen Integrationskurs stellen kann, wenn man eine gute Bleibeperspektive hat. Da zu diesem Zeitpunkt so gut wie alle syrischen Flüchtlinge in Deutschland Schutz erhielten, bekam auch Samh eine Zusage und konnte auf einmal zwei Sprachkurse am Tag besuchen. Über Students4Refugees besuchte er noch einen dritten Kurs an der LMU und arbeitete sich so in eineinhalb Jahren bis auf Sprachniveau B2 hoch.

In der Zwischenzeit bekam Samh auch eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung und damit die Erlaubnis, arbeiten und Geld verdienen zu dürfen. Mit Aushilfsjobs konnte er sich finanziell einigermaßen über Wasser halten. Samh arbeitete erst in einer Eisdiele, dann als Spülkraft in einem Hotel und schließlich auch als Servicemitarbeiter – im Hotel Hilton. „Das war eindeutig ein Karrieresprung für mich. Das war schon beeindruckend im Hilton, alleine der Name“, sagt Samh und lacht.

Irgendwann reichten ihm die Aushilfsjobs aber nicht mehr: „Ich hatte einen neuen Traum, ich wollte etwas Anspruchsvolleres. Ich hatte gute Zeugnisse, mein Abitur, warum also nicht studieren?“, sagt Samh. Er hatte in der Flüchtlingsunterkunft angefangen, anderen Geflüchteten mit geringeren Deutschkenntnissen zu helfen und dabei gemerkt, wie viel Spaß ihm das Unterrichten macht. „Ich habe das gerne gemacht und die anderen waren alle begeistert, weil ich ihnen auch den Aufbau der Sprache und die Grammatik gezeigt habe“, sagt Samh. Also bewarb er sich für den Hochschulzugang an der LMU. Er bestand die Sprachprüfung für ausländische Studierende und durfte anfangen zu studieren.

Doch auch hier gab es noch ein Problem: Sein Antrag auf Bafög wurde zuerst abgelehnt, weil er in Syrien schon mit einem Persisch- und Arabisch-Studium begonnen hatte. Für ein zweites Studium bekam er vom deutschen Staat keine Unterstützung. Samh resignierte fast: „Ich war kurz davor, mein Studium abzubrechen und meinen Traum aufzugeben.“ Doch dann half ihm die Familie einer Flüchtlingshelferin, die Samh das Geld für die Miete lieh. Gleichzeitig schrieb seine damalige Freundin, die als Anwältin arbeitete, Brief um Brief, bis er nach fünf Monaten schließlich doch noch Bafög bewilligt bekam.

Auch diese Erlebnisse sind für Samh ein Grund, sich jetzt für andere Geflüchtete einzusetzen: „Ich kenne die Situation, wenn man komplett allein in einem fremden Land ist und sich nicht verständigen kann. Wenn man alles selbst durchstehen muss und eigentlich gerade wirklich jemand anderen braucht zur Unterstützung.“ Viele Geflüchtete haben die Unterstützung nicht, die Samh hatte. Deswegen will er jetzt selbst für andere die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt im Leben sein und ihnen helfen, so wie ihm geholfen wurde.

Für dieses Engagement wurde Samh im November 2019 mit dem DAAD-Preis für ausländische Studierende ausgezeichnet, die sich durch bemerkenswerten Einsatz für die Gesellschaft hervortun. „Das war, glaube ich, der glücklichste Moment in meinem ganzen Leben. Als ich auf der Bühne stand und mir der Vizepräsident die Urkunde überreicht hat. Das hat mir auch gezeigt, dass sich die Zeiten voll Müdigkeit und Trauer am Ende doch gelohnt haben.“


Unser Autor Moritz hat sich nach dem Gespräch vorgenommen,  spontaner zu werden. Samh findet nämlich, „dass die Deutschen alles vorausplanen. Die wissen jetzt schon, wo sie im November hinfahren.“