„Es macht etwas mit dir, wenn alle Bro genannt werden und du halt immer nur beim Vornamen.“ Dahlia Ibrahim, Helena Michl und Tatjana Wenig (von links) drehen Hip-Hop-Videos. Foto: Manuel Zoller

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Frauen in einer Macho-Welt: Das Kollektiv „Female Force“ möchte Videoproduzentinnen in der Hip-Hop-Branche stärken. Ihr erstes Video stellt einen weiblichen Orgasmus in den Mittelpunkt – und bricht gleich mehrere Tabus.

Als sie die Anfrage erhielt, wusste Tatjana Wenig nicht so recht, was sie davon halten sollte: Im Musikvideo sollte eine Frau zu sehen sein, die kommt. „Ich habe viel darüber nachgedacht, ob wir das überhaupt machen sollen und wenn ja, wie“, sagt die 26-Jährige. Weibliche Orgasmen, ach was, weibliche Sexualität im Allgemeinen findet selten Erwähnung – in der Gesellschaft so wie im Rap. Das eine gibt es meist nur in Zusammenhang mit dem anderen: Männliche Lust, die die weibliche bedingt – Frauen in der Nebenrolle, selten im Fokus.

Auch deshalb ist das Musikvideo zu Lucianos Song „Peppermint“ ein Tabubruch: „Es zeigt eine selbstbewusste Frau, die masturbiert“, sagt Tatjana. Sie ist Gründerin von „Female Force“, einem Kollektiv weiblicher Videomacherinnen, die in der Hip-Hop-Szene tätig sind. Eine feste Besetzung gibt es nicht, dafür eine Regel: Every leading position is held by a woman – übersetzt: Jede Führungsposition ist mit einer Frau besetzt. Innerhalb der Filmbranche sind das unter anderem die Regisseurin, Artdirektorin, Kamerafrau, Fotografin, Choreografin und die Oberbeleuchterin. „Das Video zu ‚Peppermint‘ haben wir mit einem rein weiblich besetzen Team gedreht“, sagt Tatjana.

Auch das ist ein Tabubruch. Als sie vor etwa fünf Jahren im Bereich der Videoproduktion zu arbeiten begann, war sie die einzige Frau unter Männern. „Es macht etwas mit dir, wenn alle Bro genannt werden und du halt immer nur beim Vornamen“, sagt Tatjana. Ihre Crew, die 100blackdolphins, dreht seit sieben Jahren Musikvideos für die deutsche Hip-Hop-Elite: „Rich Rich“ von Ufo361, „Gib ihm“ von Shirin David, „Dodi“ von Shindy und weitere millionenfach geklickte Videos stammen von der Münchner Produktionsfirma. „Immer wenn es hieß, die Jungs von den Dolphins machen so gute Videos, da dachte ich: Hallo, hier sind nicht nur Männer“, erzählt Tatjana. Sie lacht. Doch selbst wenn diese Sprüche nie böse gemeint waren — das Gefühl, nicht dazuzugehören, hatte sie dennoch.

Das änderte sich allmählich als sich Helena Michl, 26, und Dahlia Ibrahim, 31, dem Team anschlossen: Beide waren ursprünglich in der Modeindustrie tätig und kamen über Umwege zu den 100blackdolphins. Tatjana erzählte ihnen von der Idee, die sie seit langer Zeit nicht mehr los ließ: „Ich wollte eine Plattform für kreative Frauen schaffen, damit sie den Platz bekommen, den sie verdienen.“ Zu dritt entwickelten sie den Einfall weiter. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis „Female Force“ Anfang März dieses Jahres mit gleich zwei Projekten Release feierte: Dem Schwarz-Weiß-Video zu „Hotel“, einem traurig-poppigen Lovesong der Künstlerin Céline. Und dem Clip zu Lucianos „Peppermint“.

Prompt folgte Feedback aus der Branche: „Eine weibliche Oberbeleuchterin, dass es so etwas gibt?“, fragten Kollegen. Andere wiederum nutzten die Gelegenheit, um ihre Kontakte zu vernetzen: „Ich kenne da eine Fotografin, die feiert total, was ihr macht. Schaut euch mal ihr Instagram an.“ Aktuell würden viele neue Namen aufkommen – von Frauen, die mitmachen wollen. „Jede, die qualifiziert ist, ist bei uns willkommen. Wichtig ist nur, dass der Vibe stimmt“, sagt Dahlia.

Der Vibe dieser drei Frauen ist vor allem Empowerment: Andere sollen die Unterstützung erfahren, die sich die Künstlerinnen gegenseitig geben: „Es ist so viel wert, wenn man Gleichgesinnte hat – jemanden, der dich zur Seite nimmt, wenn du Selbstzweifel hast und dir sagt: Hey, du kannst das“, sagt Tatjana. Dahlia und Helena nicken. Sie nennen einander „mental support dogs“, bekräftigen sich gegenseitig und achten aufeinander.

„Auf großen Produktionen gibt es immer wieder Männer, die geben mir als Director das Gefühl, ich sei ein kleines Mäuschen, das nichts von Film versteht. Dabei ist unsere kreative Arbeit mit ein Grund dafür, dass sie Essen auf den Tisch bekommen“, sagt Tatjana.

Noch heute würden sich Alte-weiße-Männer-Regeln halten, wie etwa, dass niemand den Oberbeleuchter ansprechen darf. Oder dass der Regisseur immer Recht behält. Von alldem haben die Frauen von „Female Force“ genug: „Wir haben viel Spaß bei der Arbeit. Das ist uns wichtig“, sagt Helena. Auf Instagram zeigen Making-Off-Aufnahmen, wie sie am Set gemeinsam Witze machen, singen, schreien und am Ende des Tages gemeinsam in pfefferminzgrünen Laken liegen.

Anders als im Video herrschte beim Dreh zu „Peppermint“ keine sexuelle Stimmung – im Gegenteil: „Wir haben viel gelacht und hatten eine Idee nach der anderen“, erzählt Helena. Das gilt für die Filmcrew, ebenso wie für das Model: „Sie hat am Set gesagt, dass sie sich wohl fühlt. Auch privat haben wir noch Kontakt und sie hat mir erzählt, wie schön sie den Dreh fand und wie besonders unsere Zusammenarbeit für sie war“, sagt Dahlia. Das Projekt habe allen Beteiligten gezeigt, wie das sein kann: Sich auf Augenhöhe auszutauschen, Team-Work und nicht Ego-Show.

Doch was hinter den Kulissen geschieht, bleibt meist unsichtbar. Am Ende steht ein weiteres Video, in dem sich eine halb nackte Frau räkelt, während ein Mann dazu rappt. Sieht so weibliche Selbstbestimmung aus? „Anfangs hatte ich Zweifel und unterhielt mich mit vielen Frauen in meinem Umfeld“, sagt Tatjana. Ob es das richtige Projekt sei, um weibliche Sexualität zu zeigen? Ob das Publikum ihre Message verstehen würde? Freundinnen und Bekannte, darunter einige feministische Aktivistinnen, bestärkten Tatjana. Heute zählt das Video weit mehr als eine Million Klicks – eine Million Klicks für eine selbstbewusste und masturbierende Frau ohne männlichen Hauptcharakter.

 „Ja, auch unser Model ist freizügig und sexy. Anders ist, dass sie als Person im Fokus steht.“

Nicht allen fallen die kleinen Details auf, die den Unterschied machen: „Wenn ich dem Model erkläre, wie sie beispielsweise ihre Lippen bewegen soll, dann weil ich das als Frau nachempfinde und nicht, weil es für einen Mann gut aussehen soll“, sagt Dahlia. Auch sei der Blick einer Kamerafrau anders als der eines Mannes: „Ja, auch unser Model ist freizügig und sexy. Anders ist, dass sie als Person im Fokus steht und nicht nur ihre Brüste oder ihr Po“, sagt Helena. Und dann ist da noch diese Line, die Luciano rappt: „Wo ich bin? Baby, frag mich nicht.“ Im Video spricht das Model die Zeile synchron mit. „Schließlich kann das eine Frau genauso gut zu einem Mann sagen“, erklärt Helena.

Das Model in „Peppermint“ ist schlank, hat lange braune Haare, volle Lippen und entspricht auch sonst dem gängigen Schönheitsideal. „Das heißt aber nicht, dass so und nur so weibliche Sexualität aussehen muss“, sagt Tatjana. Jede Frau, ob sie nun trans oder cis, weiß oder eine Person of Color ist, eine Behinderung hat oder nicht, könne selbst entscheiden, wie weibliche Masturbation für sie aussieht. „Außerdem macht Sexualität eine Frau nicht weniger feministisch“, sagt Dahlia. Und Helena ergänzt: „In Musikvideos sind so oft Männer mit nackten Oberkörpern zu sehen. Da sagt auch niemand: Oh, der hat aber zu wenig an.“

Man kann sie falsch verstehen, wenn man will. Das wissen die drei Frauen. Bei den Zuschauerinnen aber ist ihre Botschaft angekommen: „Wir Mädchen wachsen auf, ohne zu lernen, was weibliche Sexualität ist. Umso genialer, dass ihr das Video mit einem männlichen Rap-Song veröffentlicht habt“, schreibt eine 17-jährige Frau auf Instagram. „Ich habe sofort gemerkt, dass das nicht wieder eines dieser Videos ist, das Frauen in den Dreck zieht! Es ist wunderschön“, kommentiert eine andere. Um ihnen Raum zu geben, sie zu stärken, dafür braucht es Frauen nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera. Auch das wissen die Gründerinnen von „Female Force“. Für junge Nachfolgerinnen stellen sie Vorbilder dar – eine Alternative zum männlich dominanten Blick.

Von Anastasia Trenkler