Es ist nicht einfach, nur mit Hauptschulabschluss an der Filmhochschule zu studieren. Ersin Cilesiz hat es geschafft und ist mit dem Starter-Filmpreis ausgezeichnet worden.
Sie wartet. Sie wartet darauf, dass jemand anruft. Minuten vergehen, ohne dass etwas geschieht. Endlich das erlösende Klingeln. Der Hot Button hat wieder zugeschlagen. 9Live sucht an diesem Tag nach Automarken mit B, und die Moderatorin quatscht sich durch die Sendezeit. Es ist eine Situation, die Ersin Cilesiz gut kennt, so hat der Mittzwanziger, der derzeit Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München (HFF) studiert, angefangen: als Praktikant beim Privatfernsehen.
Es ist ein ungewöhnlicher Weg, den er beschreitet, um Filmemacher zu werden: Die meisten seiner Kommilitonen kommen aus dem gehobenen Mittelstand, machen ihr Abitur, gehen dann irgendwann an die HFF. Er hingegen wächst in Untergiesing auf, beendet die Schule nach dem qualifizierten Hauptschulabschluss. Ersin weiß schon früh, dass er etwas beim Film machen möchte: „Ich hatte einen dritten Elternteil, das war der Fernseher“, sagt der junge Mann mit dem dunkeln Bart und den dicht tätowierten Armen.
Zunächst will er Schauspieler werden, spielt in einer Laientheatergruppe – von seinen damaligen Freunden darf das aber keiner wissen, denn Theater gilt in seiner Clique als uncool. Doch Ersin merkt, dass sein Talent nicht reicht, um professionell in diesem Beruf zu arbeiten. Er geht schließlich zum Fernsehen, macht verschiedene Redaktionspraktika bei der Produktionsfirma Janus TV. „Zu der Zeit dachte ich immer, ich sei der Größte, nur weil ich beim Fernsehen bin.“ Dieses Gefühl überträgt sich auch auf sein Privatleben – mit seinen Freunden trinkt er viel, zieht fast jede Woche durch die Clubs. Manchmal fließt das gesamte Praktikantengehalt eines Monats in eine durchzechte Nacht. Was in ein paar Jahren kommt, scheint egal zu sein, nur die Gegenwart zählt.
Dass sein Praktikum bei Janus TV nach zwei Jahren nicht mehr verlängert wird, trifft ihn hart. Plötzlich ist da in ihm das Gefühl, „verkackt zu haben“, er fühlt sich unglücklich, leer, ist zum ersten Mal gezwungen, sich mit seinem Verhalten auseinander zu setzen. Diese Auseinandersetzung beginnt bereits mit der Art, wie er redet: „Für so ein Redaktionspraktikum musst du perfektes Deutsch sprechen, aber ich kam mit meinem Gossen-Slang von der Hauptschule – damit schafft man es nicht weit.“ Er weiß, dass er seine Sprache anpassen muss, um weiterzukommen, fängt an, viel zu lesen, lernt, sich gewählter auszudrücken, kommt über Kontakte schließlich zu jenem Job bei 9Live, wo er bei Gewinnspielsendungen mitarbeitet, später dann für eine eigene Show verantwortlich ist.
Als der Sender von ProSieben übernommen wird, bietet man ihm sogar ein Volontariat an. Ersin darf fortan bei Galileo und NTV mitarbeiten, der Job bei 9Live wird immer mehr zur Nebensache. Doch wenn er von dieser Zeit erzählt, merkt man, dass ihn seine Tätigkeit als Jungredakteur beim Privatfernsehen nicht wirklich erfüllt, er sich chronisch unterfordert fühlt, sich nach etwas anderem sehnt.
Dieses Andere findet er schließlich erneut in einem Praktikum: Er arbeitet am Kinofilm „In jeder Sekunde“ mit, beobachtet Regisseur Jan Fehse sehr genau bei seiner Arbeit. „Da war ich das erste Mal in meinem Leben eifersüchtig, weil ich dachte, Fuck, genau das, was er macht, will ich auch machen dürfen.“
Es ist die Vorstellung, eine eigene Idee in einem Film umzusetzen, die Ersin fasziniert. Einen Tag nach Ende des Praktikums kündigt er den Job bei 9Live, konzentriert sich nur noch darauf, sich an der Filmhochschule zu bewerben. Doch ein Studium aufzunehmen, wenn man nur einen Hauptschulabschluss hat, ist nicht so einfach: Um an der HFF genommen zu werden, muss er als Ersatz für ein Abitur den Nachweis erbringen, 36 Monate in einem Medienberuf gearbeitet zu haben – und darüber hinaus besondere künstlerische Begabung zeigen.
In seinem Bewerbungsvideo für die Filmhochschule sagt Ersin, er sei nicht der, für den er immer gehalten wird. Der Wunsch, nicht nur oberflächlich wahrgenommen zu werden, rührt auch aus der Biografie seiner Eltern. Die wachsen als Muslime in Montenegro auf. Jene slawischen Muslime, von denen es im ehemaligen Jugoslawien viele gibt, fühlen sich unter der sozialistischen Herrschaft des Tito-Regimes in ihrer Ethnizität oft nicht ausreichend respektiert – zwischen 1950 und 1960 emigrieren deswegen viele von ihnen in die Türkei, so auch Ersins Eltern. Sie werden mit einem Mix dieser beiden Kulturen groß, kommen schließlich als Gastarbeiter nach Deutschland, wo Ersin und seine Geschwister geboren werden. Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter ist Hausfrau. Obwohl die Eltern konservative Werte haben, sagt Ersin, hätten sie ihre Kinder immer mit großer Offenheit erzogen. „Zu Hause wurden teilweise drei Sprachen in einem Satz gesprochen, oft konnte man gar nicht zuordnen, was zu welcher Sprache gehört.“ Dass Ersin mehr ist als jener Klischee-Türke, den die Leute in ihm sehen wollen, sondern eben auch der junge Mann, der zur Selbstfindung nach Asien reist, der Typ, der abends in der Bar ohne Namen die Drinks mixt, das merkt auch die Aufnahmekommission der HFF: 2009 nimmt er dort sein Regiestudium auf.
Menschen in ihrer Persönlichkeit wirklich sichtbar zu machen, ist ihm wichtig und so verwundert es nicht, dass Ersin in seinem Film „Shaitan“ (2013 ausgezeichnet mit einem Starter-Filmpreis der Stadt München) erzählt, was passiert, wenn der Blick anderer nur an der Oberfläche einer Person haften bleibt: Da ist der junge Palästinenser Faris, der als Aushilfe in einer deutschen Restaurantküche arbeitet. Das Fremde, das Ersin in dieser Figur inszeniert, ist bedrohlich: Wenn Faris im Bild ist, dann begleitet ihn oft ein Knacken, ein Sirren, ein Rauschen, ein Atmen – er sagt nichts, ist einfach nur da und sieht seine Kollegen mit leerem Blick an. Sie reagieren auf diese Art mit Ablehnung, nennen ihn „Bakschisch“, sperren ihn schließlich sogar in die Kühlkammer ein. „Ich hasse so Leute wie dich“, sagt Jungkoch Andrej ganz offen und schlägt Faris dann ins Gesicht. Es ist die Furcht vor dem Anderen, die hier Gewalt motiviert.
Was Faris’ Kollegen nicht sehen, sind dessen traumatischen Erinnerungen, die Ersin in beklemmenden Bildern fasst: Da steht der kleine Faris in der Mitte eines verwüsteten Wohnzimmers. Der Fernseher flackert, sein T-Shirt ist blutverschmiert. Auf dem Boden: die Leichen seiner Eltern, die bewaffnete Männer kurz zuvor ermordet haben. Es ist ein Kriegstrauma, das dieser Tage wohl viele Palästinenser nachvollziehen können, ein Trauma, das Faris fortan wie einen Dämon – einen Shaitan – begleitet und das doch niemand so richtig wahrnimmt. Dennoch, das ist Ersin wichtig, will er nicht eine „typisch palästinensische“ Geschichte erzählen. „Mobbing, nur weil du anders bist, kann dir überall passieren – auch unter Deutschen.“ Wenn er das sagt und mit seinem hippen blauen Jeanshemd in einem angesagten Schwabinger Café sitzt, dann versteht man, dass es oft eben jene oberflächliche Wahrnehmung einer Person ist, die darüber entscheidet, wie jemand behandelt wird.
Ein Bewusstsein für genau solche Strukturen zu schaffen, ist gar nicht so einfach, wenn man nicht ständig den moralischen Lehrer geben will, das weiß auch Ersin: Für sein aktuelles Projekt, einen Spielfilm, recherchiert er derzeit gemeinsam mit der Drehbuchautorin Britta Schwem über das Leben von Sinti und Roma – ein schwieriges Thema, das er erzählen will, ohne den Zuschauer zu belehren: „Ich habe keine Lust auf Klugscheißerfilme.“ Carolina Heberling