Weg mit den Klischees

image

Eine Webserie als Imagewerbung: Sebastian Stojetz, 28, dreht in Kooperation mit der TU und der HFF München die Reihe “TUM – Täglich unter Männern”. Der Plot: Eine Frau will an der Technischen Universität studieren.

Es ist die Stunde der Wahrheit. Den Schauspielern liegen die Drehbücher vor, alle sitzen zusammen und beginnen die Szenen zu lesen. Dann ist Sebastian Stojetz, 28, am glücklichsten. “Das ist wie eine Droge”, erzählt er über den Moment, wenn die Figuren und die Geschichte, die er sich monatelang ausgedacht hat, durch die Stimmen der Schauspieler zum Leben erweckt werden. Der junge Regisseur und Drehbuchautor feiert gleich dreifache Premiere. Er hat gerade als erster die Förderung des Film-Fernseh-Fonds Bayern in der Kategorie Webserie erhalten – und das in Höhe von 50 000 Euro. Das Projekt ist die erste Kooperation zwischen der Technischer Universität (TU) München und der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF). Und es ist Sebastians erster eigener Film als Regisseur.

Unter dem Arbeitstitel “TUM – Täglich unter Männern” hat er in Kooperation mit der TU und der HFF München eine Geschichte entwickelt über das Studium an der Technischen Universität als Frau. Es geht um die taffe Juli, die wegen ihres Wunschs, Elektrotechnik zu studieren, von ihrem Freund verlassen wird. Humorvoll erzählen die Drehbuchautoren Sebastian Stojetz und Madeleine Fricke von dem Konflikt ihrer Protagonistin, trotz Hindernissen zu ihrem Traum zu stehen – und ihr Traum ist eben ein technisches Studium.

Die Webserie, also kurze Filmsequenzen, sind das Format der Zukunft. Das sagt zumindest Sebastian. Schon jetzt sehen immer mehr junge Menschen Serien. Für ihn ist das Format interessant, da es noch alle Freiheiten offenlässt. Die Länge der Folgen, der Handlungsaufbau und -ablauf, alles ist flexibel. Er kann experimentieren.

Angestoßen hat das Projekt der damalige TUM-Vizepräsident für Diversity und Talent Management, Klaus Diepold. Als Verantwortlicher für das Thema Gendergerechtigkeit wollte er, dass endlich Schluss ist mit dem Klischee, Frauen seien für technische Studiengänge nicht geeignet. “Es stört mich schon lange, dass in Fernsehen und Werbung Frauen nur bestimmte stereotype Rollen zugewiesen bekommen”, sagt Diepold. Deswegen habe er versucht, Filmschaffende davon zu überzeugen, mal ein Projekt über Ingenieure mit starken Frauen in Hauptrollen zu verwirklichen. Damit sei er auf Granit gestoßen. “Da habe ich mir gedacht, das machen wir jetzt einfach selbst”, sagt Diepold. “Es ist an der Zeit, dass auch im Film dargestellt wird, was schon lange Realität ist: starke Frauen in den Ingenieurwissenschaften.”

An der HFF hat Sebastian Stojetz von 2009 bis 2014 Drehbuch und Dramaturgie studiert. Als Dramaturg arbeitet er bei den Bavaria Filmstudios, seine Drehbücher waren schon Grundlage zahlreicher Filmproduktionen. In seinem neuesten Projekt ist er als Regisseur und Drehbuchautor involviert. Die Tätigkeit als Regisseur habe ihn völlig begeistert. “Da habe ich schon Blut geleckt”, sagt er mit einem Augenzwinkern. Denn nur so kann er eine Idee in ein Gesamtkunstwerk nach seinen Vorstellungen verwandeln.

Vor allem das Paket aus talentierten und engagierten Beteiligten vor und hinter der Kamera, dem aktuellen Thema und dem Auswertungspotenzial haben den Vergabeausschuss des Film Fernsehfonds Bayern überzeugt. “Dass wir diese Förderung vom Film-Fernseh-Fonds bekommen haben, war der Wahnsinn”, sagt Sebastian. Damit konnte er das Projekt so professionell aufziehen, wie er es sich gewünscht hat. Mit richtiger Kinovisualität und nicht nur von einer Spiegelreflex gedreht.

Helena Hofer, eine gute Freundin von Sebastian, hat mit ihrer Produktionsfirma Cocofilms die Produktion geleitet. Um alle anderen Dinge, wie etwa das Casting, hat sich Sebastian selbst gekümmert. Die Hauptrolle spielt Alina Stiegler. Auch der Kabarettist Maxi Schafroth ist mit von der Partie. Maria Furtwängler, die sich selbst mit ihrer Stiftung für die Gleichberechtigung von Frauen einsetzt, ist die Idealbesetzung für die Rolle der Professorin für Regelungstechnik an der TU und als starke Frau das Vorbild der Protagonistin.

“Ich war schon immer ein Geschichtenerzähler”, sagt Sebastian. Während der Schulzeit habe er bereits kleine Prosa geschrieben. Nach dem Abi, während einer Interrail-Tour durch Europa, hat er mit einem Freund Ideen für zwei Theaterstücke gehabt. “Ich mag es am liebsten, Geschichten in dieser Dialogform zu erzählen”, sagt er. Danach ein Jahr der Orientierung. Studium der Komparatistik und Jura, journalistische Tätigkeit, eine Tour mit seiner Indie-Alternative Band durch Frankreich. “Aber ich wollte Geschichten erzählen, ich wollte selbst etwas tun und nicht nur wie in der Schule Dinge beigebracht bekommen”, sagt er. Dann kam die Zusage von der HFF.

Die Webserie um die Frau in der Männerwelt ist jetzt abgedreht und soll Anfang des kommenden Jahres in fünf Folgen à acht Minuten erscheinen. Klaus Diepold kann es kaum erwarten, erste Szenen fertig geschnitten zu sehen, nachdem er das Projekt nun schon seit fünf Jahren verfolgt. Tobias Grabmeier, ein Student von ihm, hat den Kontakt zu der Coco-Films Produzentin Helena Hufnagel und Sebastian Stojetz hergestellt. Die Kooperation mit der HFF ergab sich durch Zufall, als die heutige Präsidentin der HFF Bettina Reitz als Kuratorin der TU in einer Besprechung von dem Projekt informiert wurde. “Das war ein langwieriger Prozess mit vielen kleinen Impulsen, bis wir da angekommen sind, wo wir heute stehen”, sagt Diepold.

Gedreht wurde ausschließlich an Originalschauplätzen: Vorlesungssaal, Mensa, Bibliothek. Alle Szenerien entsprechen denen des echten Studentenlebens an der TUM. Den Filmemachern ist aber wichtig, dass ihre Webserie
über die TUM hinausgeht, dass sie sich überall für Genderförderung in
naturwissenschaftlichen Studiengängen einsetzen.

Mitten im Unialltag zu drehen, führt zudem zu lustigen Zwischenfällen. Beim Dreh in der TU Bibliothek bei vollem Betrieb durften selbst die Schauspieler nur miteinander flüstern, bis Stojetz in voller Konzentration und mit den Kopfhörern auf laut: “Und bitte!”, durch die gesamte Bibliothek rief. Bei einem Dreh Anfang November konnten die TU-Studenten als Komparsen auch selbst Teil der Serie werden. Für die erste Folge wurde eine Schlange Studenten, die auf ihre Student-Cards warten, nachgestellt. Mit 50 Leuten zu drehen, sei schon sehr aufwendig gewesen. “Die Schlange war uns deshalb so wichtig, da wir die verschiedenen Studi-Gruppen charakteristisch überspitzt zeigen wollten”, sagt Stojetz.

Aber was halten die Studierenden der TUM von der Idee? “In meinem Master in Kerntechnik und Astrophysik sind wir etwa fünf Prozent Frauen”, sagt Karina Bernert, 22, “da gibt es also eindeutig ein ungleiches Verhältnis. Ich habe mich nicht zurückhalten lassen und auch noch nie als Frau in den Naturwissenschaften einen Unterschied erlebt. Ich finde es wichtig, dass andere Mädchen dazu ermuntert werden. Dafür ist die Webserie ein gutes Zeichen, das die Uni sendet.” Leon Stütz, 24, macht seinen Master in Maschinenbau und Management an der TUM und schätzt den Frauenanteil auf unter zehn Prozent. Er gibt zu bedenken: “Ich glaube nicht, dass so eine Serie bei einem Mädchen in der elften Klasse, die sich vorher noch nie für Technik interessiert hat, plötzlich den Wunsch weckt, sich doch für Elektrotechnik einzuschreiben. Trotzdem ist eine Serie, die solche Klischees aufbricht, ein wichtiger erster Schritt.”

Heute ist Sebastian seinem Ziel, Menschen mit seinen Geschichten zu unterhalten, schon zum Greifen nahe. “Irgendwann will ich im Kino den Leuten von der ersten Reihe aus zusehen, wie sie zu meinen Filmen lachen. Das ist mein Traum”, sagt er. Am meisten faszinieren ihn die Charaktere, die für etwas brennen, in einem Thema “richtig nerdy” sind, seien es nun die Fußballergebnisse oder Elektrotechnik. So wie er selbst, mit seinem Talent zu schreiben und dem Traum, in der Filmwelt zu arbeiten. In seinem nächsten Projekt geht es dann um einen Mann, der sich in eine reine Frauendomäne vorwagt: Er will Hebamme werden.

Text: Anne Gerstenberg

Foto: Joshua Park

Nackte für die Karriere

image

Mit gerade einmal 21 Jahren schreibt Lisa Reich bereits Drehbücher für das ARD-Vorabendprogramm. Ihr großer Traum ist es jedoch, irgendwann einmal die Kinosäle dieser Welt zu füllen, denn die junge Münchnerin ist bekennende Mainstream-Liebhaberin.

Ein Jogger rennt durch die Straßen von Wolfratshausen. Er ist splitternackt, zwei Polizisten mittleren Alters sind ihm keuchend auf den Fersen. Einer versucht eine Abkürzung über den Friedhof zu nehmen, um dem Sportler den Weg abzuschneiden, als er plötzlich vom Erdboden verschluckt wird. Gefallen ist er in ein offenes Grab – und natürlich direkt auf eine verschüttete Leiche. Denn als sein Kollege dem Gestürzten heraushelfen will, bemerken die beiden eine leblose Hand, die aus der Erde ragt.

Humorvoll wie immer beginnt auch der Auftakt dieses Falls für „Hubert & Staller“ aus der gleichnamigen Krimiserie, die aktuell durchschnittlich 2,5 Millionen Zuschauer im Vorabendprogramm der ARD verfolgen. In den Hauptrollen: Christian Tramitz und Helmfried von Lüttichau. Doch die Folge mit dem Titel „Wer anderen eine Grube gräbt“, die am 9. März ausgestrahlt wird, ist außergewöhnlich: Geschrieben hat sie Lisa Reich, eine 21-jährige Drehbuchautorin – unterstützt hat sie Daniel Rohm, mit 27 ebenfalls noch sehr jung.

Stolz stehen sie am Rand des Sets und beobachten, wie ihr Drehbuch zum Leben erwacht. Viele Autoren warten ihr Leben lang auf so einen Erfolg. „Das ist ein tolles Gefühl zu sehen, wie ein professionelles Fernsehteam das verfilmt, was man selbst geschrieben hat“, sagt Lisa. „Da muss man sich immer wieder dran erinnern: Das ist wirklich unser Drehbuch.“
 Nach vielen Szenen kommen die Darsteller zu den beiden herübergelaufen, fragen nach ihrer Meinung. Dass Lisa noch so jung ist, wundert hier keinen mehr. Das Skript hat ein Bewerbungsverfahren mit vielen Stufen hinter sich. Wer das meistert, bekommt sozusagen eine qualitativen Stempel aufgedrückt. „Ich war total froh, dass es egal war, wie alt ich bin und niemand pauschal gesagt hat: ‚Das nehmen wir nicht’“, erzählt sie. Angst, nicht ernst genommen zu werden, hatte sie trotzdem.

image

Lisa ahnt zwar, dass es eine Besonderheit ist, ein Drehbuch für ein Millionenpublikum zu schreiben, noch bevor sie überhaupt studiert hat – doch sie bleibt bescheiden. Immer wieder betont die 21-Jährige, selbst noch in den Kinderschuhen zu stecken und in die Filmwelt erst noch „reinwachsen“ zu müssen.

Andere finden hier klarere Worte: „Dieser Erfolg ist in so jungen Jahren sehr ungewöhnlich“, urteilt Andres Gruber, hauptamtlicher Professor der Abteilung Kino- und Fernsehfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Erfahrungsgemäß würden die meisten erst mit ihrer Abschlussarbeit an der HFF ihre ersten Erfolge feiern. Um so ein Drehbuch zu schreiben, brauche man schließlich vor allem Lebenserfahrung.

Seit Oktober 2015 studiert Lisa Reich unter anderem bei Gruber Regie. Beworben hat sie sich mit ihrem ersten eigenen Kurzfilm überhaupt: „Win Win“ – ein Kammerspiel über Machtspiele und Geldgier.
 Die ersten Ahnung, dass sie zum Film will, hatte Lisa vor vier Jahren in Venedig. Damals ging sie noch ins Gymnasium in Freising. Auf einer Studienfahrt sollte die Klasse zur Kamera greifen. Kulisse und Kostüm: eine kitschige Dachterrasse, venezianische Masken und Abendkleider, in denen eine Verfolgungsjagd durch die engen Gassen gedreht wurde. „Viel zu übertrieben, typisch erster Film“, sagt Lisa dazu heute und lacht. Trotzdem: Die Schülerin ist froh, ihr „eigenes Ding“ gefunden zu haben. Ihre große Schwester Anne schließt bald ihr Gesangsstudium am Mozarteum in Salzburg ab. Lisa wurde oft gefragt: Na, was ist mit dir? Singst du auch? Mit dem Filmen hatte sie nun ein Ziel, dass sie ebenso eisern verfolgen wollte wie ihre Schwester das Singen.

Schon parallel zur Oberstufe machte sie eine Ausbildung zur Kamerafrau und Cutterin an einer privaten Akademie in München und gründete ihre eigene kleine Produktionsfirma für Imagefilme und Kinowerbungen. Wenn sie sich an den freien Wochenenden Kameras auslieh, sollte es dann aber doch fiktiv und träumerisch statt gewerblich sein. „Man muss eben unterscheiden zwischen Auftragsarbeiten und dem, woran das Herz hängt“, sagt Lisa. Zum Beruf gehört für sie aber beides: „Nur vom Kino leben können ja die wenigsten.“
 Nach dem Abi fing sie bei der kleinen Produktionsfirma „Rovolution Film“ als Praktikantin an und arbeitete sich nach oben – bis sie hier auch die Chance zu
dem Drehbuch bekam, mit dem sie es nun ins Vorabendprogramm schafft. In Lisa schlummere viel kreatives Potenzial, sagt Daniel Rohm, Mitgründer der Firma und Co-Autor. „Da hab ich sie gefragt, ob sie mit mir ein Buch schreiben will.“

image

Doch auch das Schreiben hat manchmal seine Grenzen: „Man versucht so viel Situationskomik wie möglich dort hineinzupacken, aber viele wirklich lustige Momente entstehen aus dem spontanen Humor am Set– das hätte man gar nicht schreiben können.“

In nächster Zeit heißt es aber erst mal weiter Textarbeit statt am Set abzuhängen. Der Erfolg mit „Huber & Staller“ hat ihr Selbstbewusstsein für kommende Projekte gegeben: Weitere Drehbücher sind in Planung, auch im Langfilmbereich. Für die junge Autorin ist das aber alles nur Mittel zum Zweck, Lisa will später als Regisseurin arbeiten. Und dann? „Ich bin bekennende Mainstream-Liebhaberin“, gibt Lisa zu. Christopher Nolan-Filme oder die „Tribute von Panem“ sind Werke, die ihr Herz höher schlagen lassen. „In der Branche wird man dafür oft belächelt, aber ich hoffe, dass ich auch irgendwann solche Kinofilme machen kann, in die die Leute in Massen rein rennen.“ 

Fotos: Jonas Egert (Portrait), ARD/TMG/Christian Hirschhäuser (Fotos aus dem Film)

Von: Elisabeth Kagermeier

Vom Hot Button auf den Regiestuhl

Es ist nicht einfach, nur mit Hauptschulabschluss an der Filmhochschule zu studieren. Ersin Cilesiz hat es geschafft und ist mit dem Starter-Filmpreis ausgezeichnet worden.

Sie wartet. Sie wartet darauf, dass jemand anruft. Minuten vergehen, ohne dass etwas geschieht. Endlich das erlösende Klingeln. Der Hot Button hat wieder zugeschlagen. 9Live sucht an diesem Tag nach Automarken mit B, und die Moderatorin quatscht sich durch die Sendezeit. Es ist eine Situation, die Ersin Cilesiz gut kennt, so hat der Mittzwanziger, der derzeit Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München (HFF) studiert, angefangen: als Praktikant beim Privatfernsehen.

Es ist ein ungewöhnlicher Weg, den er beschreitet, um Filmemacher zu werden: Die meisten seiner Kommilitonen kommen aus dem gehobenen Mittelstand, machen ihr Abitur, gehen dann irgendwann an die HFF. Er hingegen wächst in Untergiesing auf, beendet die Schule nach dem qualifizierten Hauptschulabschluss. Ersin weiß schon früh, dass er etwas beim Film machen möchte: „Ich hatte einen dritten Elternteil, das war der Fernseher“, sagt der junge Mann mit dem dunkeln Bart und den dicht tätowierten Armen.

Zunächst will er Schauspieler werden, spielt in einer Laientheatergruppe – von seinen damaligen Freunden darf das aber keiner wissen, denn Theater gilt in seiner Clique als uncool. Doch Ersin merkt, dass sein Talent nicht reicht, um professionell in diesem Beruf zu arbeiten. Er geht schließlich zum Fernsehen, macht verschiedene Redaktionspraktika bei der Produktionsfirma Janus TV. „Zu der Zeit dachte ich immer, ich sei der Größte, nur weil ich beim Fernsehen bin.“ Dieses Gefühl überträgt sich auch auf sein Privatleben – mit seinen Freunden trinkt er viel, zieht fast jede Woche durch die Clubs. Manchmal fließt das gesamte Praktikantengehalt eines Monats in eine durchzechte Nacht. Was in ein paar Jahren kommt, scheint egal zu sein, nur die Gegenwart zählt.

Dass sein Praktikum bei Janus TV nach zwei Jahren nicht mehr verlängert wird, trifft ihn hart. Plötzlich ist da in ihm das Gefühl, „verkackt zu haben“, er fühlt sich unglücklich, leer, ist zum ersten Mal gezwungen, sich mit seinem Verhalten auseinander zu setzen. Diese Auseinandersetzung beginnt bereits mit der Art, wie er redet: „Für so ein Redaktionspraktikum musst du perfektes Deutsch sprechen, aber ich kam mit meinem Gossen-Slang von der Hauptschule – damit schafft man es nicht weit.“ Er weiß, dass er seine Sprache anpassen muss, um weiterzukommen, fängt an, viel zu lesen, lernt, sich gewählter auszudrücken, kommt über Kontakte schließlich zu jenem Job bei 9Live, wo er bei Gewinnspielsendungen mitarbeitet, später dann für eine eigene Show verantwortlich ist.

Als der Sender von ProSieben übernommen wird, bietet man ihm sogar ein Volontariat an. Ersin darf fortan bei Galileo und NTV mitarbeiten, der Job bei 9Live wird immer mehr zur Nebensache. Doch wenn er von dieser Zeit erzählt, merkt man, dass ihn seine Tätigkeit als Jungredakteur beim Privatfernsehen nicht wirklich erfüllt, er sich chronisch unterfordert fühlt, sich nach etwas anderem sehnt.

Dieses Andere findet er schließlich erneut in einem Praktikum: Er arbeitet am Kinofilm „In jeder Sekunde“ mit, beobachtet Regisseur Jan Fehse sehr genau bei seiner Arbeit. „Da war ich das erste Mal in meinem Leben eifersüchtig, weil ich dachte, Fuck, genau das, was er macht, will ich auch machen dürfen.“

Es ist die Vorstellung, eine eigene Idee in einem Film umzusetzen, die Ersin fasziniert. Einen Tag nach Ende des Praktikums kündigt er den Job bei 9Live, konzentriert sich nur noch darauf, sich an der Filmhochschule zu bewerben. Doch ein Studium aufzunehmen, wenn man nur einen Hauptschulabschluss hat, ist nicht so einfach: Um an der HFF genommen zu werden, muss er als Ersatz für ein Abitur den Nachweis erbringen, 36 Monate in einem Medienberuf gearbeitet zu haben – und darüber hinaus besondere künstlerische Begabung zeigen.

In seinem Bewerbungsvideo für die Filmhochschule sagt Ersin, er sei nicht der, für den er immer gehalten wird. Der Wunsch, nicht nur oberflächlich wahrgenommen zu werden, rührt auch aus der Biografie seiner Eltern. Die wachsen als Muslime in Montenegro auf. Jene slawischen Muslime, von denen es im ehemaligen Jugoslawien viele gibt, fühlen sich unter der sozialistischen Herrschaft des Tito-Regimes in ihrer Ethnizität oft nicht ausreichend respektiert – zwischen 1950 und 1960 emigrieren deswegen viele von ihnen in die Türkei, so auch Ersins Eltern. Sie werden mit einem Mix dieser beiden Kulturen groß, kommen schließlich als Gastarbeiter nach Deutschland, wo Ersin und seine Geschwister geboren werden. Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter ist Hausfrau. Obwohl die Eltern konservative Werte haben, sagt Ersin, hätten sie ihre Kinder immer mit großer Offenheit erzogen. „Zu Hause wurden teilweise drei Sprachen in einem Satz gesprochen, oft konnte man gar nicht zuordnen, was zu welcher Sprache gehört.“ Dass Ersin mehr ist als jener Klischee-Türke, den die Leute in ihm sehen wollen, sondern eben auch der junge Mann, der zur Selbstfindung nach Asien reist, der Typ, der abends in der Bar ohne Namen die Drinks mixt, das merkt auch die Aufnahmekommission der HFF: 2009 nimmt er dort sein Regiestudium auf.

Menschen in ihrer Persönlichkeit wirklich sichtbar zu machen, ist ihm wichtig und so verwundert es nicht, dass Ersin in seinem Film „Shaitan“ (2013 ausgezeichnet mit einem Starter-Filmpreis der Stadt München) erzählt, was passiert, wenn der Blick anderer nur an der Oberfläche einer Person haften bleibt: Da ist der junge Palästinenser Faris, der als Aushilfe in einer deutschen Restaurantküche arbeitet. Das Fremde, das Ersin in dieser Figur inszeniert, ist bedrohlich: Wenn Faris im Bild ist, dann begleitet ihn oft ein Knacken, ein Sirren, ein Rauschen, ein Atmen – er sagt nichts, ist einfach nur da und sieht seine Kollegen mit leerem Blick an. Sie reagieren auf diese Art mit Ablehnung, nennen ihn „Bakschisch“, sperren ihn schließlich sogar in die Kühlkammer ein. „Ich hasse so Leute wie dich“, sagt Jungkoch Andrej ganz offen und schlägt Faris dann ins Gesicht. Es ist die Furcht vor dem Anderen, die hier Gewalt motiviert.

Was Faris’ Kollegen nicht sehen, sind dessen traumatischen Erinnerungen, die Ersin in beklemmenden Bildern fasst: Da steht der kleine Faris in der Mitte eines verwüsteten Wohnzimmers. Der Fernseher flackert, sein T-Shirt ist blutverschmiert. Auf dem Boden: die Leichen seiner Eltern, die bewaffnete Männer kurz zuvor ermordet haben. Es ist ein Kriegstrauma, das dieser Tage wohl viele Palästinenser nachvollziehen können, ein Trauma, das Faris fortan wie einen Dämon – einen Shaitan – begleitet und das doch niemand so richtig wahrnimmt. Dennoch, das ist Ersin wichtig, will er nicht eine „typisch palästinensische“ Geschichte erzählen. „Mobbing, nur weil du anders bist, kann dir überall passieren – auch unter Deutschen.“ Wenn er das sagt und mit seinem hippen blauen Jeanshemd in einem angesagten Schwabinger Café sitzt, dann versteht man, dass es oft eben jene oberflächliche Wahrnehmung einer Person ist, die darüber entscheidet, wie jemand behandelt wird.

Ein Bewusstsein für genau solche Strukturen zu schaffen, ist gar nicht so einfach, wenn man nicht ständig den moralischen Lehrer geben will, das weiß auch Ersin: Für sein aktuelles Projekt, einen Spielfilm, recherchiert er derzeit gemeinsam mit der Drehbuchautorin Britta Schwem über das Leben von Sinti und Roma – ein schwieriges Thema, das er erzählen will, ohne den Zuschauer zu belehren: „Ich habe keine Lust auf Klugscheißerfilme.“ Carolina Heberling

Abgedreht

image

An der Hochschule für Fernsehen und Film in München wurde Eva Merz (Foto: Oliver Seidl) zwei Mal abgelehnt. Jetzt bekommt sie doch noch die Chance, ihren Traum wahr werden zu lassen. Ausgerechnet in Hollywood.

Nach Hollywood gehen – das ist ein Lebenstraum, bei dem viele
zu Recht belächelt werden. Für Eva Merz, 24, hätte es nicht unbedingt
Hollywood sein müssen. Ihr Traum war immer einfach nur, ihren
Lebensunterhalt als Regisseurin zu verdienen. „Ich muss nicht groß,
reich und berühmt werden“, sagt Eva. „Ich möchte nur Filme machen, mit
denen ich etwas erzählen kann.“ Aber das allein ist schwierig genug: An
der Hochschule für Fernsehen und Film in München wurde sie zwei Mal
abgelehnt. Auch an einer Londoner Schule wollte man sie nicht aufnehmen.
Jetzt bekommt Eva doch noch die Chance, ihren Traum wahr werden zu
lassen – und zwar ausgerechnet in Hollywood.

Die 24-Jährige zieht Anfang August in die USA. Sie hat ein Stipendium
erhalten, um am American Film Institute Conservatory in Hollywood ihren
Master in Filmregie absolvieren zu können. Die Liste erfolgreicher
Absolventen ist lang: Eva wird in die Fußstapfen von Darren Aronofsky
(„Black Swan“), David Lynch („The Elephant Man“), Patty Jenkins
(„Monster“) und Kathryn Bigelow („Tödliches Kommando – The Hurt Locker“)
treten, um nur einige Namen zu nennen.
Eva will schon lange die Filmkunst zu ihrem Beruf machen. Und das am
besten so schnell wie möglich. Sie überspringt die 10. Klasse – und noch
während der Abiturvorbereitungen dreht sie den Bewerbungsfilm für die
Münchner Filmhochschule. Die Frage, wieso sie es bereits im Alter von 18
Jahren so eilig hatte, beantwortet die 24-Jährige bestimmt: „Ein Jahr
weniger Schule hieß ein Jahr mehr Film.“

Die HFF jedoch sieht das anders: Obwohl den Zuständigen ihr Film sehr
gut gefällt, wird sie abgelehnt. Sie sei zu jung, solle mehr
Lebenserfahrung sammeln und es später einfach noch einmal versuchen.
Doch nach zahlreichen Praktika an professionellen Filmsets scheitert
auch die zweite Bewerbung. Diesmal ohne Begründung.
Eva beginnt ein Fotodesign-Studium in München und arbeitet gleichzeitig
an dem Film, der sie später nach Hollywood bringen wird. Natürlich
frustriert sie die Ablehnung an der HFF. Aber die jungen Frau aus
Weilheim gibt nicht so schnell auf. „An Drehtagen, an denen keiner Zeit
hatte, mir zu helfen, kam es auch schon mal vor, dass ich in der einen
Hand das Mikro gehalten, in der anderen die Kamera geschwenkt und mit
der Nase Regieanweisungen gegeben habe“, erzählt sie und lacht.

Auch die Produktion ihres Kurzfilms „Mondnacht“ – nach dem
gleichnamigen Gedicht von Joseph von Eichendorff – gestaltet sich als
schwierig. Eva weiß ganz genau, wie dieser Film aussehen soll – und dass
er teuer werden wird. „Mondnacht“ wechselt zwischen Realität und
Phantasie, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Der Film handelt von
der 18-jährigen Natalie, die nach dem Tod ihres Vaters zwischen Trauer
und Wut schwankt. Die Mutter ist bereits gestorben, als Natalie acht
Jahre alt war, ihr Vater, ein Straßenmusiker, ist daraufhin dem Alkohol
verfallen und hat sie misshandelt. Nach seinem Tod hilft ihr erst eine
ungewöhnliche Begegnung mit einem Mann aus einer anderen Zeit, der sich
als Joseph vorstellt, das Vergangene zu verarbeiten und sich von ihrem
Vater zu verabschieden.

Vier Jahre sucht Eva nach Finanzierungsmöglichkeiten. Vergeblich. Für
eine Jugendförderung ist sie zu alt, für viele Sponsoren einfach zu
jung. Als sie kurz davor ist, das Projekt auf Eis zu legen, entdeckt sie
auf einem Kurzfilmfestival einen kleinen, unscheinbaren Flyer, auf dem
für den Filmwettbewerb „Die Blaue Blume“ der beste romantische Film
gesucht wird.  

„Mondnacht“, „Die Blaue Blume“, zwei Gedichte von Eichendorff – das
musste ein Zeichen sein. Also finanziert Eva den Film, den sie als
Bachelor-Arbeit dreht, aus ihren Ersparnissen. Wieder lässt der Erfolg
auf sich warten: Der Film gewinnt weder einen Preis beim Wettbewerb „Die
Blaue Blume“, noch wollen große deutsche Filmfeste wie die Hofer
Filmtage oder die Berlinale ihn zeigen. Lediglich drei, vier kleinere
Festivals lassen den Film außer Konkurrenz laufen. Das war für die junge
Filmemacherin die herbste Enttäuschung von allen. So viel Zeit, so viel
Geld, so viel Mühe – und dann so wenig Anerkennung. „Natürlich denkt
man irgendwann, man ist vielleicht gut, aber nicht gut genug.“ Doch noch
ist Kapitulieren keine Lösung für sie.

Anstatt sich weiter über das geringe Interesse an ihrem Film in
Deutschland zu ärgern, schickt sie ihn einfach nach Kalifornien – und
gewinnt prompt den Hauptpreis in der Kategorie „Best Student Short“ beim
„California International Shorts Festival“. Die Idee, sich in Amerika
an den Filmschulen zu bewerben, ist für Eva zu diesem Zeitpunkt eher ein
Spaß. „Dann hast du wenigstens nichts ausgelassen“, sagt sie sich.
Amerika ist ihr letzter Versuch, auf eine Filmschule zu kommen. Plan B
wäre gewesen, vielleicht irgendwann einmal quer in die Branche
einzusteigen.

Sie bewirbt sich mit „Mondnacht“, dem Film, den in Deutschland
niemand zeigen wollte. In den USA allerdings weckt er das Interesse der
USC School Of Cinematic Arts und des American Film Institute
Conservatory. Plötzlich reißen sich die Institute, die sich im Ranking
des Hollywood Reporter jährlich um den ersten Platz als beste Filmschule
streiten, um die junge Filmemacherin aus Deutschland. Die USC versucht
Eva mithilfe einer Führung durch den Campus zu überzeugen, der Direktor
der AFI bietet ihr ein Stipendium schon für das erste Lehrjahr an, das
normalerweise erst vom zweiten Jahr an vergeben wird. Ihm habe ihr
Bewerbungsfilm von allen Einsendungen am besten gefallen – der Film, den
sie fast nicht mehr gedreht hätte.
Grund für das Interesse der Amerikaner an der deutschen Filmemacherin ist womöglich ihr unverwechselbarer Stil.

Eugen Gritschneder, Student an der HFF, stand für zwei ihrer Filme,
so auch für „Mondnacht“, hinter der Kamera. Er weiß mittlerweile sehr
gut, welche Bilder Eva will: „Evas Stil ist elegant, klar und klassisch.
Sie hat ein gutes Gespür für schöne Bilder – und mir gefällt der
Pathos, der in ihnen steckt.“

Einen Groll gegen die Filmhochschule in München hegt Eva nicht. An
das Aufnahmegespräch erinnert sie sich sogar mittlerweile amüsiert
zurück. Auf die Frage, welche Bücher sie gern lese, antwortete sie, ihr
gefielen englischsprachige Romane, sie möge die englische Sprache sehr
gern. Daraufhin entgegnete einer der Professoren, der während des ganzen
Gesprächs kaum ein Wort von sich gegeben hatte: „Sie glauben doch wohl
nicht, dass sie direkt nach der Uni nach Hollywood kommen?“

Gabriella Silvestri

Foto:

Oliver Seidl