Lola Runge / Foto: Lola Runge

Unendliche Nähe

Lola Runge, 21, studiert Fotodesign. In ihren Werken arbeitet sie sich an sehr persönlichen Themen ab. Ihr erster Film handelt davon, wie es ist, den eigenen Vater nur aus Erzählung der anderen zu kennen.

Von Theresa Parstorfer

Wenn sie fotografiert, sieht es ein bisschen aus, als würde Lola Runge tanzen. Als folge sie einer vorgegebenen Choreografie: Sie beginnt im Stehen, manchmal steigt sie auf die Zehenspitzen, bewegt sich von Seite zu Seite, den Körper immer voller Spannung, die Kamera fest in den Händen, leicht an die Stirn gedrückt, Blick durch den Sucher. Mit der Zeit zieht sie sich ein bisschen zusammen, ihr Rücken wird krumm, bis sie irgendwann in der Hocke, auf den Knien, im Schneidersitz auf dem Boden kauert. Manchmal legt sie sich auch auf den Bauch, robbt nach vorne, kommt ihrem Modell immer näher.

Lola – Jeans, grauer Wollpulli, graue Wollmütze über den langen braunen Haaren – ist 21 Jahre alt. Seit drei Semestern studiert sie Fotodesign an der Hochschule München. Sie will Fotografin werden. Vielleicht will sie auch einmal Filme machen. Sie sagt: „Ich habe mich noch nicht gefunden.“ Sie weiß, die Konkurrenz an Fotografen und Filmemachern ist groß, aber sie probiert einfach alles aus.

Gerade hat sie Semesterferien, und während draußen der Faschingsdienstag gefeiert wird, schießt Lola Fotos von ihrer eineinhalb Jahre jüngeren Stiefschwester Ida. Als Hintergrund haben die beiden dafür eine große, weiße Leinwand in der Dachgeschosswohnung ihrer kürzlich gestorbenen Großmutter aufgehängt. Der Ort und das Model sind beide wichtig für diese Geschichte. Denn während der Studienanfang für viele junge Menschen bedeutet, das Zuhause zu verlassen – ausziehen, sich lösen, ein Anruf hier und da, einmal im Monat heimfahren – verbringt Lola immer noch viel Zeit im Haus ihrer Familie im Landkreis Erding.

Lolas Modelle, die Orte, die sie fotografiert, und die Geschichten, die sie mit ihren Bildern erzählt, haben meistens etwas mit ihrer Familie zu tun. Ihre Familie ist ihr Rückzugsort. An ihrer Familiengeschichte arbeitet sie sich aber auch ab, Stoff gibt es da genug. „Ich glaube, bei diesen Themen fühle ich mich am sichersten“, sagt Lola, „da weiß ich, was ich fühle.“ Angst, zu viel zu zeigen, hat sie nicht.

Lola ist die jüngste Tochter ihrer Mutter. Sieben, elf, 14 und 16 Jahre trennen sie von ihren Geschwistern. Lolas Vater starb, als sie neun Monate alt war. Nachdem die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs gestellt worden war, dauerte es sechs Wochen, dann war ihr Vater tot. Zwei Wochen später übernahm Lolas Mutter seine Bodenlegerfirma.

Über ihr Zuhause und das Aufwachsen ohne ihren Vater hat Lola vor Kurzem ihren ersten Film gedreht. Sie hat altes Video- und Fotomaterial ihrer Familie verwendet, vermischt mit statisch-ruhigen Aufnahmen aus dem alten Bauernhaus, das ihre Eltern gemeinsam renoviert haben. Im Hintergrund hört man die Stimmen von Lolas Mutter, ihrem elf Jahre älteren Bruder und ihrer Großmutter, die sie für dieses Projekt interviewt hat. „Vor allem, dass ich noch einmal mit meiner Oma gesprochen habe, ist wichtig“, sagt Lola, und auch, dass ihre Oma den fertigen Film gesehen hat, bevor sie gestorben ist.

Lola hat ihren Film „Zu Hause“ genannt. Das Thema des Seminars lautete „Filmisches Selbstporträt“ und Vorgabe waren drei Minuten. Lolas Film ist 8.30 Minuten lang. Eine Eins bekam sie trotzdem. „Danach sind viele Leute zu mir gekommen und haben gesagt, dass sie ihn gut fanden“, sagt Lola, „das hat mich schon sehr gefreut.“ Auch auf der Beerdigung ihrer Großmutter hat sie ihn gezeigt.

Mit ihren Arbeiten erzählt Lola auch etwas über Ambivalenz. Über die zwei Seiten. Die Seiten, die sie selbst in sich trägt, und die, die das Leben einem so hinwirft: Freude und Trauer, Geborgenheit und Verlust, das Selbst und die Anderen. All das liegt in Lolas Geschichte sehr eng beieinander. Manchmal kann das eine ohne das andere nicht sein.

Im Film sagt ihre Mutter: „Du hast nicht den Verlust gehabt vom Papa, sondern du hast hier deine Geborgenheit gehabt.“ Ihr Bruder sagt: „Du warst für alle ein gutes Bindeglied. Also vor allem eben, wo der Papa gestorben ist. Da hast du Licht in den Tag gebracht.“ Vielleicht war Lola wie ein Anker für ihre Mutter und die Geschwister, die den Tod bewusst erlebt hatten, während Lola noch ein Baby war. Vielleicht war sie ein Grund, weiterzumachen, ein Beweis dafür, dass das Leben auch noch Schönes bereithält.

„Manchmal war ich schon traurig, dass ich keinen Papa hatte, so wie andere Kinder“, sagt Lola. Manchmal sei sie auch ein bisschen neidisch gewesen. In ihrem Zimmer hängen vier Traumfänger. Gegen die Albträume, die sie hat, seit sie ein kleines Kind ist. Verlassensangst, sagt sie. Angst davor, dass das Leben noch mal jemanden wegnimmt, nachdem sie jemanden verloren hat, den sie eigentlich noch gar nicht kannte. Ihren Vater wird sie immer nur von den Fotos und Erzählungen der anderen kennen. „Meine Mama hat immer gesagt, mein Papa lebt in meinem Herzen weiter“, sagt Lola. Im Film sagt ihre Mutter: „Als du noch sehr klein warst, hast du einmal gesagt: Gell Mama, wenn der Papa keine Krebse mehr hat, dann kommt er aus meinem Herzen und dann halte ich ihn auf meiner Hand.“

In den Filmaufnahmen sieht man Lola als kleines Mädchen. Sie lacht, versteckt sich hinter Jacken, tanzt mit ihrem Bruder in der Küche, liegt mit geschlossenen Augen auf einer Couch. Immer wirkt sie zufrieden, meistens lächelt sie. „Insgesamt bist du sehr hilfsbereit. Manchmal vielleicht zu viel. Lässt dich zu sehr einspannen“, sagt die Stimme ihres Bruders. Schon im Kindergarten hat Lola ihre Mutter gefragt: „Mama, wann arbeitest du, damit ich organisieren kann, wo ich hingehe?“

„Ich will immer, dass alles harmonisch ist“, sagt Lola. Wenn jemand ein Problem hat, kommt er zu ihr, in diesem Haus voller Menschen, bei denen „es schon auch oft Zoff gibt“, wie sie sagt. Lola hat nicht nur die vier älteren Geschwister, sondern seit vielen Jahren noch drei jüngere Stiefgeschwister vom Partner ihrer Mutter, und mittlerweile auch Neffen und Nichten. Das alte Bauernhaus ist für alle ein Zuhause, ein „ganz besonderer Ort“, sagt Lola. Ein „offenes Haus“, sagt ihre Mutter. Eine Mischung aus Villa Kunterbunt und Bullerbü. Die Latten des Gartenzauns sind bunt bemalt – rot, blau, gelb, grün – und mit einer Lichterkette umwickelt. Es gibt eine Schaukel, einen Sandkasten, und neben dem Zaun stehen Fahrräder: Erwachsenenräder, Räder mit Kindersitzen, Kinderräder, mit Pedale, ohne Pedale, ein Roller.

Überhaupt – von allem gibt es im Haus der Runges viel: Viele Jacken, die in der Diele an Haken von der Decke hängen, viele Handtücher, die im Badezimmer aus den Regalen quellen, viele Töpfe und Pfannen in der Küche. Dazwischen wuselt Oskar, ein schwarzer Welpe, über die Dielenbretter, und einen Stock höher schleichen drei Katzen um die Ecken. Und noch etwas gibt es in großer Zahl: Fotos. Überall hängen Fotos. An die Glasscheiben des Küchenbuffets geheftet, an der Wand hinter dem Esstisch, im Flur, und auch in Lolas Zimmer. Auf ihrem Schrank liegen mehrere Kameras und Objektive.

Fotografiert hat Lola schon immer. „Das war nie eine Frage“, sagt sie. Seit sie als Mädchen die alte Digicam von ihrer Mutter bekommen hat. Und als sie nach dem Abitur überlegte, was sie machen sollte, entschied sie sich gegen „was Soziales“ und auch gegen Kunst auf Lehramt und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Mappe für die Hochschule. Eine von Lolas älteren Schwestern ist die Künstlerin Sophia Süßmilch. Die stellt mittlerweile regelmäßig aus, gewinnt Preise und kann von ihrer Kunst leben. „Aber ich habe natürlich auch gesehen, wie schwierig das lange Zeit war“, sagt Lola. Ein Künstlerleben, das wollte sie selbst eigentlich nicht.

Versuchen musste sie es dann aber trotzdem, das mit dem Fotografieren. Und jetzt sagt sie: „Wenn ich mir meine Bilder anschaue, denke ich mir: Ja, ich kann das schon.“ Sie sagt das sehr ruhig, wie eine sehr objektive Feststellung, keine Angeberei, keine übertriebene Selbstsicherheit. Ist halt so. „Die Planerei von einem Projekt ist schon stressig, das bräuchte ich jetzt nicht unbedingt“, sagt Lola. „Schon während des Shootings bin ich ganz wild darauf, die Bilder anzuschauen, und wenn ich dann das Ergebnis sehe, denke ich mir: Wow, ich hab was echt Schönes erschaffen.“ An dieser Stelle lacht sie ein bisschen.

Lola und ihre Stiefschwester haben eine Pause gemacht vom Fotografieren, haben Zigarettenrauch durch das geöffnete Fenster in Lolas Zimmer in die kalte Februarluft geblasen. Jetzt drücken sie ihre Zigaretten aus und steigen die Holztreppe wieder nach oben ins Dachgeschoss. Ist es nicht komisch, hier zu sein, wo ihre Oma erst gestorben ist? „Hier geht es“, sagt Lola. In der Wohnung ihrer Großmutter in München sei es schlimm gewesen, „dort hat es noch nach ihr gerochen“. Aber hier oben hält sie es aus. Alles ist noch so, als wäre ihre Oma nur kurz zwei Stockwerke tiefer gegangen und würde gleich zurückkommen. Dokumente liegen ungeordnet auf dem Schreibtisch, auf einer Aktenmappe ein Passfoto von Lola als kleines Mädchen, mit einer Schleife im Haar. Pflanzen ranken sich um die Dachbalken, ein Teeservice mit nicht zusammenpassenden Gläsern, eine Kobra aus dunklem Holz. Sammelsurium eines Lebens.

Lola und ihre Stiefschwester Ida kramen in einem großen Lederkoffer voller Klamotten nach einem passenden Outfit. Vorher war es eine schwarze Strumpfhose und ein tief ausgeschnittener Body, jetzt sollen es ein roter Samtpullover und hohe rote Pumps sein. Die beiden jungen Frauen albern ein bisschen rum, so vertraut, wie Schwestern das eben tun. „Weißt du noch die Federboa, die wir neulich dabei hatten?“, sagt Ida, „die würde jetzt auch passen.“ Lola lacht. Es ist ein wenig, als würden sie Verkleiden spielen und Fotos machen. Dann verbindet Lola ihr Handy mit einer Lautsprecherbox. Sie will, dass Ida sich zur Musik von Queen von ihren Emotionen leiten lässt. „Eine Kommilitonin hat mir erzählt, dass sie sich für eine Bilderreihe von einem Gedicht inspirieren hat lassen. Das wollte ich auch mal ausprobieren“, sagt sie, nicht mit einem Gedicht, dafür mit Musik. Freddy Mercury singt „I don’t want to die. Sometimes I wish I had never been born at all“.

Ida bewegt sich. Anfangs ein bisschen schüchtern, blickt mal in die Kamera, mal in die Ferne, setzt sich auf einen Hocker, setzt sich auf den Boden, wickelt sich in das Laken, das dort liegt – und Lola beginnt ihren Tanz, kommt Ida näher und näher. Der Auslöser klickt in schnellem Takt. Lola senkt die Kamera nicht ein einziges Mal, bis die Speicherkarte voll ist. Und dann noch eine. Die Welt sehe anders aus, wenn man sie durch eine Kamera anschaue, sagt sie. Mit ihrem Blick durch den Sucher stellt Lola eine schonungslose Nähe her, eine fast schmerzhafte Intimität. Die Bilder, die bei dem Shooting herauskommen, zeigen kein spaßiges Freundinnen-Faschings-Foto-Shoot im Dachgeschoss, sondern eine junge Frau, die mit klarem, ernstem Blick den Blick des Betrachters erwidert. Klare Farben, klare Linien, und eine Offenheit, die überrascht. Als würde Lola ihrer Schwester durch die Kamera zwar unendlich nahe kommen, ihr aber trotzdem den Raum geben, nur durch den Blick zurück in die Kamera eine eigene Geschichte zu erzählen.


Foto: Stefanie Preuin

Unsere Autorin Theresa hat beim Schreiben ganz viel Queen gehört. Fazit: Sollte man öfter machen. Dann ist das Leben auch in den harten Momenten auf einmal gar nicht mehr so hart.