Bitte nicht bewegen: Robin Dörfler, David Nowotny und Lindsey Wang (von links) veranstalten Konzerte. Im Mittelpunkt steht aber nicht Ekstase, sondern die Möglichkeit herunterzukommen – mit Techno. Foto: privat

Träum, Raver, träum

Hypnotic Techno: David Nowotny und sein Kollektiv IO veranstalten Schlafkonzerte. Wenn die Show vorbei ist, werden die Gäste geweckt und zurück in den Alltag geschickt

Von Hubert Spangler

Ein Bauernhof mitten auf einem Hügel, daneben liegen Felder und Wald, so weit das Auge reicht. Vor der Tür stehen Schuhe. Im Raum ist ein DJ-Pult aufgebaut. Dycide steht dort und präsentiert seine Musik. Die Lautsprecher fauchen, der Bass massiert den Brustkorb, aber kaum ein Gast tanzt. Einzelne junge Menschen stehen auf der Tanzfläche, sie wippen ein wenig und schauen dabei nach unten. Manche von ihnen haben die Augen geschlossen. Der Boden ist mit Teppich ausgelegt. Am Rand der Tanzfläche liegen viele Partygäste, sie haben es sich in ihren Schlafsäcken gemütlich gemacht. Der Beat ist stetig und treibend: Hypnotic Techno. Das Münchner Kollektiv „IO“ hat an diesem Abend nach Moosach (Landkreis Ebersberg) zu einem Schlafkonzert geladen, zu einem „Sleeping Rave“.

Musikalisch bewegt sich IO in einer extrem übertönten Nische. Hypnotic Techno hat mit dem Techno, wie man ihn im Club hört, wenig zu tun und verfolgt ganz andere Motivationen. Elektronische Musik in einem Club zeigt meistens eher einen „Hau-drauf“-Charakter und spielt hauptsächlich mit einem Stilmittel: Spannung. Sie wird wiederholt aufgebaut und dann abrupt aufgelöst.

Menschen besuchen
Schlaf-Raves, weil sie eine Pause
vom Alltag suchen

Bei dem, was IO macht, passieren keine abrupten Dinge, alles scheint wellenförmig abzulaufen. Musikalische Elemente werden so geschmeidig eingeführt, dass sie teils mehrere Minuten brauchen, um ihre finale Lautstärke zu erreichen. So bemerkt man sie oft erst, wenn sie schon längst da sind. Es erfordert einiges an Aufmerksamkeit, um die einzelnen Audiospuren zu differenzieren, außer man kann sich einfach darauf einlassen.

Techno ist darauf ausgelegt, einen Trance-artigen Zustand auszulösen. Herkömmlicher Techno ist dabei aber eher auf ein Harmonisieren im Miteinander auf der Tanzfläche aus, während Hypnotic Techno die Menschen in sich kehren lässt. Menschen besuchen Schlaf-Raves, weil sie eine Pause vom Alltag suchen.

Ortswechsel: Dycide, mit bürgerlichem Namen David Nowotny, 22, IO-Mitgründer und Künstler, kauert an seinem Schreibtisch vor Synthesizern und anderer Gerätschaft und starrt auf das kühle Licht seines Bildschirms. Er schiebt mit der Maus Tonspuren und Regler hin und her. Schon seit seiner frühen Jugend begeistert er sich für elektronische Musik. Aufgewachsen ist er in einem Umfeld, in dem ihm klassische Musik zu verstehen gegeben wurde. Seit jeher bewegt er sich in verschiedenen Nischen, bis er vor knapp zwei Jahren mit Techno angefangen hat: „Das war die natürliche Konsequenz aus all dem, was ich vorher gemacht habe“, sagt er. Er hat die Musik gefunden, mit der er nicht per se ein ansprechendes Musikstück entwirft, er ist mit dieser Musik am nächsten daran, ein Gefühl zu gestalten. Wenn er sich an seinen Tisch setzt, um einen Track zu produzieren, dann passiert das in einem Fluss, der nur wenige Stunden dauert.

In Davids Dunst- und Freundeskreis ist es üblich, Musik und visuelle Kunst bewusst nicht zu zerdenken und zu überarbeiten. Auf diese Weise fließen die Werke nahezu ungefiltert von Kopf und Ego in den Computer. So kommt das echteste und ehrlichste Resultat heraus. Der Künstler klingt nicht so, wie er klingen möchte, sondern eben so, wie er klingt. David und sein unmittelbares Umfeld haben mehr oder weniger synchron zueinander Hypnotic Techno und den „egolosen“ Ansatz des Musikproduzierens verstanden. „Auf einmal haben immer mehr Leute den Sound gemacht und wir hatten so viel unveröffentlichte Musik“, sagt David.

Musik, für die sich zunächst einmal in München niemand begeisterte. Die Szene ist recht klein, bestehende Labels bevorzugen meist eine Zusammenarbeit mit befreundeten Musikern und sind deshalb nicht offen für neue Künstler. So kam es, dass David, Lindsey Wang, Niklas Bühler, Robin Doerfler, Yassine Zouaoui, Lukas Weinlein und Carmen Schweiger (alle zwischen 21 und 24 Jahre alt), Anfang dieses Jahres IO gegründet haben. IO ist ein Label, das sowohl Musik als auch visuelle Kunst produziert und publiziert. Nicht falsch verstehen: Eine eigene Plattenfirma zu gründen, war keine reine Selbsthilfe, vielmehr sind die Künstler davon überzeugt, etwas Neues zu machen. Sie haben verstanden, dass sich neue Dimensionen und Schichten auftun, wenn man das Gehör und den Sehsinn enger miteinander verknüpft als bisher.

Sie wollen öfter auftreten.
Aber die Scheu vor dem
Nachtleben ist zu groß

Den Namen IO hat die Gruppe sich gegeben, weil er Vielschichtigkeit symbolisiert: er kann für „Input Output“ stehen, für eine binäre Codierung aus eins und null oder für an und aus. Fast jeder der Künstler macht Musik als auch visuelle Kunst. Dazu gehört Fotografie, aber auch generative Kunst, also Kunst, die aus ein paar Zeilen Programmiersprache berechnet wird.
Lindsey ist im Team der Kopf hinter der visuellen Komponente. Einige der Artworks und Videos zu Veröffentlichungen stammen aus ihrer Feder. Alle Artworks anderer Künstler gehen durch ihre Hände.

Lindsey hat sich auch beim ersten Schlaf-Rave um die Live-Visuals gekümmert: In einer dunklen Ecke saß sie und hat zur Musik abstrakte, einnehmende Videos an die Decke projiziert. Zu multidimensionaler Musik gehören auch multidimensionale Bilder: „Ich will, dass man sich darin genauso verlieren kann wie in der Musik“, sagt sie, „dass man darin schwimmt.“

Live will das Team seine Musik künftig öfter zugänglich machen. Die Scheu vor dem Nachtleben ist aber zu groß, deshalb ist die Truppe vorsichtig. Sie selbst sind selten bei Techno-Events. Was dort stattfindet, widerstrebt ihnen immens. Für sie wäre es eine Respektlosigkeit, ihre Kunst als Beschallung für ein Saufgelage zu zeigen. IO will kulturellen Anklang finden. Mitte November wird es den nächsten Schlaf-Rave geben. In Berlin. Wenn die Menschen dort bereit sind, sich zu öffnen. Und ihre Schuhe auszuziehen.

Foto: privat