Schwimmender OP-Saal

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Sandra Schimek heuerte für zehn Wochen auf dem schwimmenden Krankenhaus Africa Mercy an, um medinzische Hilfe in den ärmsten Ländern der Welt  zu leisten.

Für Menschen wie Olivienne, 25 Jahre alt, ist die Africa Mercy vielleicht die einzige Chance auf ein neues Leben. Olivienne leidet an einem Gesichtstumor, linksseitig.

400 Ärzte, Krankenschwestern, Reinigungskräfte, Köche, Lehrer und andere Helfer aus mehr als 30 verschiedenen Nationen wohnen und arbeiten auf dem schwimmenden Krankenhaus. Auch die Münchnerin Sandra Schimek war 2015 dabei. Das Schiff, mit dem Mercy Ships seit 1978 medizinische Hilfe in den ärmsten Ländern der Welt leistet, beherbergt sowohl das Personal als auch die OP-Säle und Krankenstationen. Während einer Missionsreise fährt es für eine Dauer von zehn Monaten Häfen im afrikanischen Raum an. Im September 2015 liegt es im Hafen von Tamatave, an der Ostküste Madagaskars, und Sandra Schimek ist zehn Wochen dabei.

Olivienne ist mit ihrem Vater angereist. Für die Kosten der Fahrt bis in den Hafen hat er sein Reisfeld verkaufen müssen. Es ist ihre große Chance auf ein bisschen Normalität in einem Leben, das von Armut, Krankheit und Schikane geprägt ist.

Sandra ist hier nicht hauptberuflich. Eine Mischung aus Fernweh, der Suche nach Neuem und der Pause von Altem hat die Frau mitte Zwanzig hierher verschlagen.

Nach dem Fachabitur beginnt die Münchnerin eine Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin und wird Krankenschwester. Seit 2008 ist sie im Klinikum Großhadern angestellt. Doch das reicht Sandra nicht. Im Winter 2011 schreibt sie sich für das Pflegemanagement-Studium in München ein. Im Frühjahr 2015 folgt die Bachelor-Arbeit. Doch auch das ist ihr nicht genug, oder vielleicht reicht es ihr auch einfach gerade in Deutschland. Sie will mehr tun und anders helfen.

Dass Sandra auf dem Mercy-Schiff arbeiten darf, ist ein Privileg unter jungen Medizinfachkräften. Ihr Wissen im Bereich der Kinderkrankenpflege ist gefragt. Hunderte Bewerbungen erreichen die Organisation Mercy Ships, die sich über Spenden finanziert, jedes Jahr. Trotz der eher streng christlichen Werte und Regeln. Und obwohl die Menschen für ihren Einsatz zahlen müssen, statt entlohnt zu werden. Für Sandra sind das etwa 700 Dollar im Monat für Kost und Logis.

Auf fünf Krankenstationen an Bord des Schiffes werden so viele Patienten wie möglich untergebracht. In fünf OP-Sälen wird beinahe rund um die Uhr operiert. Meist sind es orthopädische Eingriffe, Verbrennungen, gynäkologische Behandlungen und viele gutartige Tumore.

Celestin, acht Monate alt, wird mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte eingeliefert. Beim falschen Füttern mit der Flasche ist Flüssigkeit in seine Lunge gelangt. Seine Lungenentzündung wird behandelt und später die Spaltung operiert. Celestins Eltern ruhen sich unterm Krankenbett aus. Es ist laut und stickig. Aber das ist ihnen egal. Hauptsache, der Kleine wird wieder gesund.

Die wenigen Krankenhäuser in Madagaskar sind verwaist. Für Behandlungen müssen die Menschen selbst zahlen. Und das kann kaum jemand. Mercy Ships ist für viele die einzige Chance, denn die Behandlung ist kostenlos. Doch auch das liegt nicht in ihrer Hand. Wer das Schiff betritt, wurde zuvor bei den Screening Days ausgewählt. Ärzte reisen durch das Land und suchen die Patienten aus. Kriterien sind Krankheit und Heilungschancen. Aber auch, ob die Familien den Weg zum Schiff selbst bewerkstelligen können.

Jeden Tag kommen neue Patienten, der OP-Plan ist streng getaktet. Operiert wird im Schichtwechsel. Am Ende eines Tages siegt das Gefühl, etwas Gutes tun zu können – und die Müdigkeit. Vielleicht sitzt man noch zusammen, ohne Alkohol natürlich. Doch irgendwann kriecht jeder in sein Stockbett und zieht die Vorhänge zu. Einer der wenigen Momente, in denen man auf dem Schiff allein ist. Mit sich und den überwältigenden Eindrücken des Tages. Mit Bildern von unterernährten Kindern, von offenen Verletzungen und Missbildungen, wie sie die meisten Mediziner aus westlichen Ländern nicht kennen.

Manche Bilder gehen Sandra nicht aus dem Kopf. Zum Beispiel das eines Mädchens, das furchtbar weint. Irgendwas in ihrem Rachenraum schien starke Schmerzen zu verursachen. Sandras Kollegin zieht später einen langen Wurm aus der Nase des Kindes. Diese Erlebnisse tauscht sie am Handy mit ihren deutschen Kolleginnen aus. „Die haben es kaum glauben können“, sagt sie. Manche konnten auch nicht verstehen, warum sie dafür noch Geld zahlt. Auch Sandra hatte sich das alles leichter vorgestellt. Medizinische Begriffe fallen ihr zu Beginn nicht auf Englisch ein, die Sprachbarrieren zwischen ihr und den behandelnden Ärzten sowie den Patienten machen ihr anfangs zu schaffen. Sie ist auf ihre Kollegen angewiesen. Doch trotz ständig neuer Besetzung ist das Personal schnell ein eingespieltes Team – hoch motiviert und hilfsbereit, denn wer hier ist, will wirklich hier sein. Und so ist es am Ende der Abschied, der Sandra nicht leicht fällt.

Mit zehn Wochen hat Sandra die Mindestdauer eines Einsatzes bestritten. Viele ihrer Kollegen bleiben länger. Bis Juni 2016 wird die Africa Mercy, die von Spenden abhängig ist, noch im Hafen von Madagaskar liegen. Dann macht sie einen Halt im Trockendock in Südafrika. Der nächste Einsatz beginnt dann wieder Ende August.

Fotos: privat

Von: Friederike Krüger