Lucie Liu, 26, begleitete über mehrere Monate hinweg homosexuelle Menschen in Taiwan, kurz bevor das Land die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte. Nun wurde ihr Film „Taipeilove“ als beste Dokumentation auf dem Filmfestival in Seoul ausgezeichnet – vielleicht war es ihr letztes Werk
Von Anna-Elisa Jakob
Als Lucie Liu vor zwei Jahren mit dem Drehen begann, wollte sie eine Erfolgsgeschichte erzählen: Von Taiwan, dem kleinen Inselstaat, der als erstes Land Asiens die gleichgeschlechtliche Ehe legalisierte. Sie filmte die schwenkenden Regenbogenflaggen, die Massen auf der Pride Parade in Taipeh, wollte einfangen, was so unglaublich zu sein schien: Die Unterdrückung, die verbotene Liebe hatte nun ein Ende. Um aus diesen Szenen eine Dokumentation zu machen, sprach Lucie mit fast vierzig Menschen, die davon erzählten, wie ihr tabuisiertes Leben als Homosexuelle in Taiwan aussah. Darunter ein Mann, der mit einer Frau verheiratet war, weil seine Eltern das so wollten. Oder ein 17-Jähriger, der aus dem Haus geworfen wurde, als seine Eltern erfuhren, dass er schwul ist. Er lebt jetzt auf der Straße. „Teilweise ganz tragische Schicksale“, sagt Lucie. Sie erinnert sich noch gut an die Anstrengung, die sie auszehrte während der langen Drehtage.
Ihr Film „Taipeilove“ beginnt im Jahr 2018, als die Ehe von Lesben und Schwulen in Taiwan gesetzlich nicht erlaubt war. Lucie Liu filmt den Kampf um Anerkennung von drei homosexuellen Menschen, begleitet sie auf Demonstrationen und Gegendemonstrationen, verfolgt die politischen Entscheidungen – und die Szenen der großen Feier im Mai 2019, als das Parlament das neue Gesetz vorstellte. Die Erfolgsgeschichte, die die 26-Jährige anfangs erzählen wollte, wurde zu einer tief greifenden Gesellschaftskritik. Auf der einen Seite die liberale Entwicklung des Landes, auf der anderen Seite die Vorurteile, Tabus und Einschränkungen, denen LGBTQ-Menschen in Taiwan ausgesetzt sind. Lucie sagt, das musste sie erst lernen: zurückzunehmen, was sie sich von ihrer Geschichte erwartet, den Menschen zuzuhören und so eine eigene Geschichte erzählen zu lassen. Zum Erfolg wurde Lucies Film jedoch mittlerweile selbst. Gerade erst zeigte sie ihn auf dem Internationalen Filmfestival in Südkorea und gewann dort den Preis für die beste Dokumentation.
Lucie Liu stammt aus München, sie studiert derzeit an der Universität der Künste in Berlin. Zeit für ein Gespräch findet sie bei einer abendlichen Apfelschorle in ihrer Heimatstadt Dachau. In Jeans und grauem Wollpulli nimmt sie in der Sitzecke am Rand eines Cafés Platz. Es ist still hier, kaum Leute da. Ein guter Ort, um eine Geschichte zu erzählen, in der so viel passiert. Die Protagonisten ihres Films, Sarah, David und Kevin, lud sie damals in ihr Wohnzimmer in Taipeh ein, wo sie ein Praktikum machte, sprach dort das erste Mal über ihre Filmidee. Diese Interviews wurden nicht nur zum Leitfaden der gesamten Dokumentation. Sarah, David und Kevin wurden gute Freunde, sagt Lucie. Und wie sollte es anders sein, wenn man sich gegenseitig von Anfang an das Innerste anvertraut, über Liebe spricht, über intime Wünsche – diese große Verletzlichkeit?
„So offen über die eigene Sexualität zu sprechen, ist gerade im asiatischen Raum ungewöhnlich“, sagt Lucie. Ihr gelingt es trotzdem, ihren Protagonisten in den Interviews ganz nahe zu kommen. Sie sprechen offen über tiefe Emotionen und Gedanken. Doch wann kollidiert diese Nähe mit dem Anspruch des Dokumentarfilms, als Regisseur eine Distanz zu den Protagonisten zu wahren? „Die Interviews haben wir gleich am Anfang geführt, später sind wir Freunde geworden“, sagt Lucie und betont, wie wichtig ihr das gewesen sei. Zu Hause auf dem Sofa von Lucie erzählten Sarah, David und Kevin von ihrem Coming-out und den Reaktionen ihres Umfeldes. Von Exorzismen, um ihre Sexualität umzuwandeln, von strengen Christen, die in ihnen den Teufel sahen.
Wie zarte Knospen öffnen sich die Protagonisten im Laufe der Dokumentation, teilweise sehr gefasst, teilweise sehr tränenreich. Als Sarah von ihrem Coming-out erzählt, ist sie ganz ruhig. Ihrer Mutter hätte sie es damals in einem Streit wütend entgegengeworfen. Im Film kämpft sie später mit den Tränen, als sie vor der Kamera mit ihrer Mutter telefoniert und sie fragt, ob sie die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützen würde. „Du bist mein Kind“, sagt die Mutter zu ihrer Tochter, „natürlich unterstütze ich dich.“
Vor „Taipeilove“ hatte Lucie nie an das Filmen gedacht, geschweige denn als Regisseurin hinter der Kamera gestanden. Sie sah schon immer gerne Filme – „doch wer tut das nicht?“, fragt sie. Lucie spielte Theater, ein bisschen, und das auch während ihres Auslandsaufenthaltes in Taipei. So lernte sie einige Leute kennen, die sich in der Filmbranche auskannten und später Teil ihres Teams wurden. Um zu beschreiben, wie diese Dokumentation mit geringem Budget entstehen konnte, verwendet Lucie häufig den Begriff „Schneeballprinzip“. Eine Person kannte die nächste, so fand sie zu ihrem Film-Team – und den Protagonisten.
„Das waren jetzt auch irgendwie zwei Jahre meines Lebens“, sagt Lucie irgendwann, mitten im Gespräch, die Apfelschorle ist noch nicht leer. „Nach dem Bachelor wusste ich erst einmal nicht, was ich machen soll – und ich glaube, auch das war ausschlaggebend dafür, dass es Taipeilove heute überhaupt gibt.“ Nach ihrem Politikstudium in Freiburg begann sie ein Praktikum in Taiwan. Das Interesse für das Land kam auch durch die Familie: Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Chinese. Während der Pride Parade in Taipeh lernte sie Menschen aus verschiedenen asiatischen Ländern kennen, die erzählten, wie weit Taiwan im Umgang mit Homosexualität schon sei im Vergleich zu ihrer Heimat. In Taipeh hatte sich eine große Pride Parade etabliert, Paare konnten sich öffentlich zeigen und ihre Liebe feiern. Lucie recherchierte, sprach mit weiteren Betroffenen und Experten – LGBTQ-Aktivisten, Wissenschaftlern, Politikern.
Eine Geste benutzt Lucie oft, wenn sie von Taiwan spricht, ihrem Leben dort und den Menschen, die sie kennenlernte. Sie nimmt dann ihre Hände kurz in Richtung Herz und breitet sie schnell wieder auf, ohne dass es theatralisch wirkt. Lucie fängt die Gefühle ihrer Protagonisten mit der Kamera ein, all die Emotionen, die aufgewühlt wurden durch die ständigen Debatten über richtige und falsche Liebe. Da ist Zuversicht, aber genauso Unverständnis und Wut. David fragt, wieso er überhaupt dafür kämpfen müsse, warum es Menschen brauche, die ihm erlaubten zu heiraten. „Sollte das für mich als Mensch nicht sowieso mein Recht sein?“ Der Film endet mit einer Videobotschaft von Premierminister Su Tseng-Chang, der sich im Februar 2019 für die LGBTQ-Rechte aussprach. Bevor er seinem Volk eine gute Nacht wünscht, fordert er es auf, jegliche Unterschiede zu akzeptieren und in gegenseitigem Respekt zu leben. Am 17. Mai 2019 legalisierte Taiwan als erstes asiatisches Land die gleichgeschlechtliche Ehe.
Ob es nun die Leidenschaft hinter ihrem Film war, die Offenheit der Protagonisten oder schlichtweg der richtige Zeitpunkt, der den erfolgversprechenden Funken zündete? „Ich glaube, das alles hätte gar nicht so gut geklappt, wäre ich nicht so naiv gewesen“, sagt Lucie. So ganz nimmt man ihr das allerdings nicht ab, wenn sie die Beine übereinander schlägt, die Arme vor sich verschränkt. Da ist nichts Naives an Lucie, eher eine realitätsfreudige Nüchternheit, und vielleicht zweifelt sie gerade deswegen daran, einen weiteren Film zu drehen. „Taipeilove“ sei vermutlich ihr „Lebenswerk“, sagt sie. Es klingt nicht überheblich, sondern etwas erschöpft. Vor allem aber klingt es zufrieden.