Handstand-Fieber in München. Die Fotos zeigen die Stadt in ihrer Schönheit, die Sportler haben nur ein Problem: Sie sehen immer nur den Boden. Fotos: Vincent Lammert (4), Fabian Bäcker (2), Felix Meissen, Ulrik Ask Fossum

„Man steht halt, bis man fällt“

Caroline Brunner, 25, und Vincent Lammert, 29, sind permanent auf der Suche nach dem perfekten Handstand. Sie turnen überall und posten die spektakulärsten Fotos bei Instagram.

Von Laurens Greschat
An manchen Tagen steht die Welt einfach Kopf. Zumindest für Caroline Brunner, 25, und Vincent Lammert, 29. Beinahe jeden Tag sind sie auf der Suche nach dem perfekten Handstand. Überall in München turnen sie. Im Treppenhaus der Uni. Im Einkaufszentrum. In der U-Bahn. Im Hofgarten. Und von jedem Handstand gibt es Fotos, die auf Instagram gepostet und meist von hunderten Menschen ein Like bekommen. Aber auf diese Idee muss man ja auch erst einmal kommen. Den Handstand zur Kunstform zu erheben. Pardon, Handbalancing. So nennt sich diese Sportart.
Vincent ist einer der alteingesessenen Handbalancer. Bereits seit sieben Jahren geht er diesem Sport nach, und das als einer der ersten. Sagt er zumindest: „Ich habe schon das Gefühl, dass ich das Handbalancing hier aufgebaut habe.“ Man hört den Stolz in seiner Stimme. Er steht an einem Dienstag vor der Pinakothek der Moderne und wärmt sich auf. Wenn er nicht gerade Handstand macht, arbeitet Vincent an seinem Doktor im Bereich der Elektrotechnik bei einer Münchner Radarchipfirma. Und doch merkt man ihm an, dass Handbalancing seine große Leidenschaft ist. Wie er selbst sagt: „Wenn mich jemand bezahlen würde, dann würde ich das hauptberuflich machen.“ Man muss sich das nur einmal vorstellen: festangestellter Handstand-Sachverständiger.
„Egal wie gut ich bin, ich würde der Situation nie so sehr vertrauen.“
Vor sich hat Vincent sein Trainingsgerät aufgebaut: die Canes, wie Handstandbegeisterte die Stäbe mit den Griffen nennen, auf denen sie ihre Übungen machen. Ein Geschenk seiner Freundin. Neben ihm steht ein alter schwarzer Trolley, in dem weitere Stangen und Griffe untergebracht sind. Auch die Kamera gehört fest zu Vincents Grundausstattung. Die Bilder der Sessions werden direkt auf seiner Instagram-Seite gepostet: Dort nennt er sich Vincent_Handstand und hat mehr als 3500 Follower. Die Fotos kommen aber nicht nur bei Handstand-Begeisterten gut an. Auch die Betreiber der Fünf-Höfe-Seite haben die Bilder seines jüngsten Shootings geteilt. Um Erlaubnis gefragt haben sie allerdings nicht. Vincent stört das nicht: „Das ist ja auch gute Promotion für mich“, sagt er und grinst. Und zugegeben: Um eine Erlaubnis, seine Handstände in der Einkaufspassage machen zu dürfen, hat er sich ja auch nicht gekümmert. Bei solchen Shootings stößt er öfter auf Widerstände. Auf Security-Mitarbeiter, die nach Drehgenehmigungen fragen. Deshalb reicht es oft nur für eine kurze Momentaufnahme, in der der Handstand richtig sitzen muss. Besonders ausgefallene Plätze bergen oft das Risiko, ein Platzverbot zu bekommen. Als Vincent zum Beispiel versuchte, einen Handstand in der Münchner U-Bahn zu machen, bemerkten ihn Mitarbeiterdes Sicherheitsdienstes. „Ich rechne eigentlich immer damit, rausgeschmissen zu werden“, sagt er. Warum die Leute ihn von seinen Aktionen abhalten wollen, versteht er aber nicht. Schließlich schadet er ja niemandem. Gute Fotos bekommt er trotzdem immer. Und je ausgefallener der Ort ist, desto mehr Likes erhalten seine Aufnahmen.
Der Handstand steht für ihn im Vordergrund. Über gute Aufnahmen freut er sich aber trotzdem. Deshalb hält er immer die Augen offen – auf der Suche nach dem nächsten Platz für ein gutes Foto: „Ich gehe schon immer mit dem Blick durch die Stadt: Wo kann ich noch gute Bilder machen“, sagt er. Zu den Grenzgängern zählt er sich nicht. Menschen, die an schroffen Klippen, wenige Meter vor dem Abgrund ihre Handstände machen und sich in Lebensgefahr begeben. Solche Menschen gibt es auch in der Community. Vincent sieht solche Aktionen eher kritisch. „Egal wie gut ich bin, ich würde der Situation nie so sehr vertrauen“, sagt er.
Handbalancing, das ist Handstand in verschiedenen Varianten. Es ist eine Sportart, die viel Körperbeherrschung, Kraft, Ausdauer und einen guten Gleichgewichtssinn fordert. Techniken, die auf den ersten Blick leicht erscheinen, brauchen oft Monate des Trainings, bis man sie meistert. So ging es auch Vincent. Er hatte sich 2012 das Kreuzband gerissen, da stieß er auf den einarmigen Handstand. Die Technik faszinierte ihn. Er dachte sich: „Das kann ich auch.“ Bis er den Einarmer, wie Vincent diese Technik nennt, dann schaffte, vergingen anderthalb Jahre. Der Kreuzbandriss war da schon längst abgeheilt. „Einarm war das Frustrierendste, dass ich je gemacht habe“, sagt er. Vincent zieht das Band zu, das er um sein Handgelenk geschlungen hat, um es zu stabilisieren. Dann nimmt er Anlauf und schwingt sich auf die Canes. Und Vincent, der sonst eigentlich immer lacht, ist plötzlich still und konzentriert.
Es ist gerade diese Möglichkeit, sich selbst herauszufordern, die Vincent am Handstand so liebt. Die Möglichkeit, sich stets selbst zu übertreffen. Und damit ist er noch lange nicht am Ende: „Ich weiß, dass ich nicht mehr Profi werden kann, aber das, was ich noch erreichen kann, will ich noch erreichen“, sagt er. Etwas, das man noch verbessern kann, gibt es schließlich immer. Die Handstand-Community in München ist groß. Mehr als 50 Turner, die sich über eine Whatsapp-Gruppe verabreden, um mal wieder Kopf zu stehen.
Mit Vincent zusammen übt häufig auch Caroline. Caroline, das ist eine sonnengebräunte junge Frau in Sportklamotten. Eigentlich wollte sie Cheerleaderin werden. Sie ging für ein Auslandssemester nach Los Angeles und versuchte, einen Platz in einem professionellen Team zu ergattern. Aber die Konkurrenz war zu groß. „Ich habe mir in dieser Zeit quasi einen Platz mit einer anderen Frau geteilt und am Ende hat sie ihn bekommen“, sagt sie. Trotzdem war ihr Aufenthalt ein Erfolg. Denn am Muscle Beach, einem legendären Strand in Santa Monica und Geburtsort des amerikanischen Fitness-Lifestyle-Booms, fand sie ihre neue Leidenschaft: Handbalancing. So oft sie konnte, kam sie an den Strand, „baden gegangen bin ich aber tatsächlich selten“, sagt sie und lacht. Dass die Sportart nicht so kompetitiv ist wie Cheerleading, sagt ihr zu. Es ist das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, die sich Tipps gibt und anspornt, Neues auszuprobieren, das ihr so gut an der Szene gefällt.
Kippt sie nach vorne, stürzt sie in die Tiefe. Aber die Perspektive täuscht
Unter dem Namen Caro.Upsidedown zeigt auch sie auf Instagram ihren Followern ihre Handstände. Mehr als 3400 Menschen folgen ihr. Man sieht Caroline mitten auf einem Highway in Kalifornien. Sie streckt den Rücken durch und steht kerzengerade. Ein wenig hat man Angst, dass gleich ein Auto am Horizont auftaucht. Auch in New York hat sie schon ihre Körperbeherrschung gezeigt. Mitten auf der Brooklyn Bridge steht sie im Handstand. Einen Arm hat sie auf dem Boden, den anderen in der Luft. Ihre Beine sind gespreizt, wie im Spagat. Die meisten Bilder entstehen aber in ihrer Heimat München, in der Einkaufspassage Fünf Höfe zum Beispiel. Hier balanciert sie auf ihren Canes, lehnt den Oberkörper grazil nach hinten – man könnte meinen, es fehlen nur Zentimeter bis zum Sturz. Dass manche Leute Handbalancing nicht wirklich ernst nehmen, nimmt sie locker: „Die Leute denken nur an Handstand“, sagt sie. Aber es gebe so viele unterschiedliche Handstand-Formen, und was einfach aussieht, ist in Wahrheit ziemlich anspruchsvoll. Und manchmal auch gefährlich. Auf einem Foto, gepostet im Mai, sieht man Caroline in der LMU, wo sie Sporttherapie studiert, auf einer Empore. Sie balanciert auf ihren Armen, das linke Bein ist zur Seite gestreckt, das rechte ist nach oben abgewinkelt. Würde sie nach vorne kippen, stürzte sie in die Tiefe. Aber die Perspektive täuscht ein wenig, direkt hinter ihr befindet sich das Treppenhaus. Zu sehen ist das Bild auf ihrer Instagram-Seite nicht mehr. Caroline hat es inzwischen entfernt.
Die Suche nach dem richtigen Spot kann lange dauern. Der Boden muss hart, aber glatt sein. Ist er das nicht, schmerzen schnell die Handflächen oder man sinkt ein. Häufig trifft man Caroline im Theatron im Olympiapark, weil da der Untergrund optimal ist. Das Theatron ist gut gefüllt. Eine Gruppe Salsa-Enthusiasten trifft sich an diesem Sommerabend hier. Einige Schaulustige haben es sich auf den höheren Rängen gemütlich gemacht und beobachten interessiert die Menschenmenge unter ihnen. Die meiste Aufmerksamkeit gilt aber, natürlich, den Handstanding-Leuten. Caroline versucht sich gerade an einem besonders komplizierten Handstand. Behutsam schwingt sie ihre Beine in die Luft. Zuerst seitwärts, dann steil dem Himmel entgegen, bis sie im Handstand steht. Ihr ganzer Körper steht jetzt unter Spannung, die Muskeln schwellen an und die Abendsonne glitzert auf ihrer von der Anstrengung leicht feuchten Haut. Langsam löst sie ihre Hand von den Canes und versucht, sie seitwärts auszustrecken, bis sie nur noch einarmig auf den schmalen Stäben balanciert. Einige Momente hält sie sich in der Luft, dann aber zittert sie ein wenig, verliert ihr Gleichgewicht und schwingt sich wieder auf den Boden. Für Caroline nur ein kleiner Rückschlag, denn Morgen wird sie es wieder versuchen. Entmutigen lässt sie sich auf jeden Fall nicht: „Man steht halt, bis man fällt“, sagt sie und lächelt. Die Welt muss lustig sein, wenn man sie im Handstand sieht.