Innere Mitte

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Es ist eine Selbstfindungsgeschichte. In den Hauptrollen: ein Mädchen und die Stadt der Liebe. Natürlich kommt auch ein schnuckeliger Franzose vor, er heißt sogar Pierre. Wäre das ein Fernsehfilm, hätte ich längst abgeschaltet. Spätestens dort, wo die Protagonistin eine helle Dreizimmerwohnung im Zentrum für den Preis eines dunklen WG-Zimmers in der Vorstadt mietet.

Nur ist es eben kein Fernsehfilm, sondern die Auslandserfahrungen von Saskia. Deshalb bleibe ich natürlich dran; alles andere wäre grob unhöflich.
Saskia sagt, sie hätte in Paris ihre innere Mitte gefunden. Dass wir nicht vor einer Kamera stehen, erkennt man nur daran, dass Saskia selbst eingesteht, dass das irgendwie doof klingt. Aber sogar ich, die ich so gar nicht an innere Mitten glaube, muss sagen, dass Saskia entspannter wirkt: Bei einem unserer letzten Treffen hat sie mir ihre Tasche in die Arme gewuchtet und ist durch den Uni-Flur gesprintet, weil sie fünf Minuten vor der Deadline noch ein Sekretariat erreichen musste. Als sie keuchend zu mir zurückkehrte, beteuerte sie tapfer, sie mache sich keinen Stress, was in ihrer privaten Geheimsprache bedeutet, dass sie sich unheimlich viel Stress macht, es aber nicht zugeben möchte.

Jetzt ist das irgendwie anders. Die Ruhe in Person sitzt in meinem Wohnzimmer und isst ihre Extraportion Pilaw, die ich ihr ungebeten aufgetan habe, als sie erzählt hat, wie wenig man in Paris isst. Ich mag ja nicht an innere Mitten glauben, die in den Hauptstädten unserer Nachbarstaaten auftauchen, aber an Nachschlag glaube ich fest. Meine innere Mitte – für den Fall, dass sie doch auf mich wartet – wird jedenfalls sicher nirgendwo sein, wo man Nahrung in homöopathischen Dosen zu sich nimmt.

Saskia seufzt. Sie weiß selbst nicht genau, was ihr in Paris so gut getan hat, sagt sie. Die Luft? Der schnuckelige Franzose? Oder hat sie eine Heimat gefunden? Es gibt kein Drehbuch, in dem sie das nachlesen könnte. Gäbe es eins, dann hätte sie bereits in der letzten Szene ihren Koffer gepackt und würde jetzt gerade die Fenster ihrer Pariser Dreizimmerwohnung zum Lüften öffnen. Stattdessen trinkt sie mit ihrer spirituell beschränkten Freundin die Weinflasche leer und fährt dann zurück in ihr Schwabinger WG-Zimmer. Ihre innere Mitte muss wohl noch ein bisschen auf sie warten. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.