Foto: Jonas Grandcke

Gefühle zeigen. Schwäche zulassen. Weinen

Männer haben eine gefühlsbetonte, sensible Seite. Das sagt Santiago Lösslein Pulido, 22. Der junge Fotograf hat gerade eine Reihe mit dem Titel „Fragile Masculinity“ veröffentlicht

Ein Badezimmer in München. Zwei Freunde. Über das Gesicht von Ozias Madja, 26, rinnt es nass von den Augen über die Wangen herab. Santiago Lösslein Pulido, 22, hält den Moment mit einer analogen Kamera fest. Es sind keine Tränen, die fließen. Es ist Wasser. Es strömt aus dem Duschkopf. Ozias Augen sind geschlossen. Sein Gesicht wirkt, als ob er sich von einem Schmerz befreien würde. Erleichtert, aber gleichzeitig traurig. Die Tränen an diesem Abend sind nicht echt – die Gefühle schon. „Das Foto ist im Gespräch mit Ozias entstanden“, sagt Santiago. Der Titel: „Fragile Masculinity – a conversation with Ozias“.

Dass dieses Bild an genau diesem Abend entstanden ist, war nicht geplant. „Es war ein Abend unter Freunden, ich hatte meine Kamera dabei und hab mich ein bisschen warmgeschossen. Einfach so“, sagt Santiago. Ozias und er sind befreundet. „Wir hängen ab, ich hatte schon immer das Gefühl, dass wir uns gut verstehen. Wir haben gute Gespräche, aber noch nie so ein richtiges tiefes wie an diesem Abend“, sagt er.

Irgendwann im Laufe des Abends seien sie im Bad gelandet, während sie miteinander gesprochen haben. Und dort, im Badezimmer, einem intimen Raum, in dem man normalerweise mit sich alleine ist, vertieft sich das Gespräch zwischen den jungen Männern. Ozias – muskulöser Typ, viele Tattoos – erzählt von seinen Gefühlen, Ängsten und Zweifeln. Von den Ansprüchen, die er als junger Mensch an sich selbst hat. Und auch von den Erwartungen seiner Familie an ihn. Vom Aufwachsen in einer Familie mit Migrationsgeschichte. Vom Gefühl, die Eltern zu verletzen, wenn man nicht das macht, was sie sich vielleicht vorgestellt hatten. Vom Wunsch, etwas Kreatives zu machen. Er öffnet sich. Gibt seinem Freund Einblicke in sein verletzliches Innenleben. „In dem Moment haben wir gemerkt, dass uns etwas verbindet: Dass wir Männer sind, die sich beide als Männer identifizieren, und gleichzeitig eine sehr emotionale und zerbrechliche Seite haben“, sagt Santiago.

Gefühle zeigen. Schwäche zulassen. Weinen. Eine verletzliche Seite haben. Auch heute scheinen das noch Eigenschaften zu sein, die in Medien und Werbung mehrheitlich Frauen zugeschrieben werden. Es lässt klischeehafte Rollenbilder in den Köpfen der Menschen entstehen. „Männer sind genau wie Frauen. Und Frauen sind wie Männer – wir sind Menschen“, sagt Santiago. Deshalb hätten eben auch Männer eine gefühlsbetonte, sensible Seite. Das möchte er mit „Fragile Masculinity“ fotografisch zeigen.

Dieses Foto vom Mann in der Dusche stammt aus Santiagos Reihe „Fragile Masculinity“ und spielt dort eine tragende Rolle. (Foto: Santiago Lösslein Pulido)

Als Santiago die fertigen Fotos sieht, die er von Ozias gemacht hat, merkt er: „Ich habe genau das gefunden, was ich wollte.“ Er stellt die Fotos bei der Ausstellung „Alienation“ im The Stu aus.

Fragile Masculinity ist ein Thema, das Santiago wichtig ist. Zwar gebe es heute mehr Offenheit dafür, es werde aber trotzdem zu wenig darüber gesprochen, sagt der Student der Politikwissenschaften. „Schon in unserer Kindheit bekommen wir ein bestimmtes Männer- und Frauenbild vermittelt. Ich bin in Neuperlach aufgewachsen und ging auf eine Grundschule mit einigen Kindern aus migrantischen Familien. In manchen von diesen Familien herrschten sehr bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit“, sagt er. Jungs sind mutig und stark, Mädchen sind Heulsusen – ein typisches Klischee.

Santiago verbrachte als Kind viel Zeit mit seiner Mutter und mit seiner Schwester. In der Schule wurde er im Sport manchmal als letzter gewählt, weil die anderen Jungs behaupteten, dass er nicht so gut Fußball spielen könne. „Ich war einfach nie der typische Junge, der mit aufgeschlagenen Knien nach Hause gekommen ist. Wenn die Frauen bei mir zu Hause getratscht haben, war ich gerne dabei und habe mitgeredet“, sagt Santi, wie er von seinen Freunden genannt wird.

„In meiner Familie durfte ich so sein, wie ich bin“, sagt er. Erst später merkt er, dass diese Offenheit ihm nicht überall begegnet. Dass ihm aufgrund von Äußerlichkeiten von manchen Menschen eine Art von Homosexualität zugeschrieben wird – ohne dass die viel über ihn als Person wissen. „Es wurde mir von außen aufgedrückt. Schon sehr früh, mit 16 oder 17. Das habe ich gehasst.“

Der junge Münchner mit den schwarzen Locken und den weichen Gesichtszügen steht mit seinen Emotionen in einem engen Diskurs. „Verschiedene Arten von Kunst können in mir starke Gefühle auslösen – das ist manchmal auch anstrengend, wenn man nach einem Film weinen muss, aber auch sehr schön“, sagt er. Auch Männer weinen, auch Männer haben eine schwache, emotionale Seite. Die Fotoserie Fragile Masculinity will er künftig weiterführen.

Gefühlswelten und Zwischenmenschliches stehen in Santiagos Fotografien im Vordergrund. Für ein anderes Projekt, das er gemeinsam mit seiner Freundin Hanna Kaunicnik, 19, realisiert, fotografiert er Freundespaare. Es soll eine Serie werden, die sie als Printmagazin veröffentlichten wollen. „Ich fotografiere das, was um mich herum ist. Und das sind eben meine Freunde“, sagt er. Es sei viel ehrlicher und schöner, das eigene Umfeld zu dokumentieren, als etwa weit zu reisen und an einem Ort Menschen zu fotografieren, von denen man nichts weiß.

„Männer sind genau wie Frauen“, betont Santiago. (Foto: Jonas Grandke)

„Das einzige, was einen Fotografen individuell macht, ist der Fakt, dass er selbst ein eigenes Leben führt. Das ist doch schon ein großer Topf an Individualität“, sagt Santiago. Man solle erst einmal bei sich anfangen. Deshalb bildet er das ab, was ihm nahesteht – seine Freunde. Freundschaften faszinieren ihn generell: „Die Verbindung zwischen zwei Menschen ist immer einzigartig. Manche Freunde verstehen sich ganz ohne Worte. Und jeder kennt das: Man lädt eine Person zu einer Party ein, aber man weiß genau, dass die Person noch mit einer zweiten kommen wird. Weil man die beiden immer zusammen sieht“, sagt er. Das Besondere an seinen Arbeiten ist außerdem: Er fotografiert ausschließlich analog. Das bringt ein gewisses Risiko mit sich, denn alles muss sitzen. Dennoch ist er überzeugt von der „Magie des Analogen“, wie er es nennt.

Zur Fotografie ist der 22-Jährige vor ein paar Jahren gekommen – über einen Workshop beim Münchner Fotografen Christoph Schaller im The Stu. Christoph Schaller hatte ihm damals bei Instagram geschrieben. Aber nicht wegen seiner Fotos. Schaller wollte Santi als Model fotografieren. Santi ging zum Shooting und so kamen ins Gespräch. Später besuchte Santi den Workshop und profitiert seitdem vom kreativen Umfeld, dem Austausch und den Möglichkeiten bei The Stu. Hin und wieder steht Santiago selbst als Model vor der Kamera. Als Fotograf hat er mittlerweile Aufträge im Mode-Bereich.

Das Foto mit Ozias hat auf Santiagos Instagram-Account „Positive_Fallback“ aktuell mehr als 300 Likes. Es gibt dort noch zwei weitere Fotos aus der Serie mit Ozias. Unter jedem Bild hat Santi einen kleinen Text auf Englisch über das Gespräch mit seinem Freund verfasst. Beim Fotografieren geht es für Santiago neben der Ästhetik auch darum, „sich mit den Menschen zu unterhalten, eine Verbindung zu ihnen zu haben“, sagt er. Man muss für ein Foto eben nicht nur hinsehen, sondern auch zuhören.