Echt jetzt?

Kunst versus Physik: Amelie Satzger, 23, setzt sich mit dem Wirklichkeitsbegriff auseinander – die Fotos wirken wie gemalt

Von Anastasia Trenkler

Verwirrt blickt die junge Frau in den Badezimmerspiegel. In ihrer Hand hält sie eine pinke Zahnbürste, die beinahe so groß ist wie sie selbst. Zu ihrer Linken steht ein riesiger Becher mit einer ebenso großen Zahnpastatube. Die Größenverhältnisse passen nicht zusammen. Die Fotografie wirkt surreal, wie gemalt. Einzig für diese Aufnahme hat Amelie Satzger, 23, die überdimensional großen Attrappen gebaut. „Ich konnte nirgendwo eine Zahnbürste in dieser Größe finden. Außerdem wollte ich, dass das Model mit der Requisite interagiert. Es wäre nicht dasselbe gewesen, hätte ich die Gegenstände mit einem Bearbeitungsprogramm eingefügt“, erklärt Amelie.

Das Bild trägt den Titel „Expansion“ und ist Teil der Fotostrecke „Was ist Wirklichkeit?“. Diese Frage zieht sich durch die Inhalte aller fünfzehn Bilder. Für ihre Bachelorarbeit im Fach Fotodesign entwickelte sie diese ungewöhnliche Idee. Die 23-Jährige wollte sich künstlerisch mit dem physikalischen Wirklichkeitsbegriff auseinandersetzen. Dafür las sie die Bücher „Der große Entwurf“ und „Eine kurze Geschichte der Zeit“ von Stephen Hawking. Amelie wählte fünfzehn unterschiedliche Thesen aus und entwarf zu jeder ein spezielles Fotokonzept. Ihr betreuender Dozent, Hans Deumling, sei überrascht von der Idee gewesen. Schließlich erscheint die Kombination aus Kunst und Physik ungewöhnlich. „Ich interessiere mich für Kunst, aber auch für Wissenschaft“, sagt Amelie. Ihr Anliegen sei gewesen, beides zu vereinen.

Bevor Amelie anfing, Fotodesign an der Hochschule München zu studieren, dachte sie darüber nach, sich für Biologie einzuschreiben. Schon als Jugendliche fand sie Naturwissenschaften spannend. Ihr Weg führte sie aber in die Kunst. Im Alter von 19 Jahren arbeitete sie als Model. Erst später begann sie, auch selbst zu fotografieren. Als sie gemeinsam mit ihrer Familie Urlaub auf Föhr machte, plagte sie die Langeweile. Zum Zeitvertreib und eher durch Zufall nahm Amelie eine Kamera in die Hand. Sie fing an, sich selbst zu fotografieren und stellte ihre ersten Selbstporträts danach online. Das kam gut an. Heute hat die 23-Jährige mehr als zehntausend Follower auf Instagram. Dort sind viele schöne Bilder von vielen schönen Menschen zu sehen. Ihren Erfolg verdankt Amelie aber nicht nur ihrem Äußeren.

„Ich hatte von Anfang an
eine gewisse Vorstellung von den
Models und ihren Haarfarben.“

Anstatt sich auf oberflächlichen Selfies und in altbekannten Modelposen zu zeigen, wählt sie für ihre Bilder spannende Kulissen und ungewöhnliche Requisiten. Beispielsweise zeigt eines der Fotos die junge Künstlerin, wie sie mit den Trägern ihres Bodys an einem Kleiderbügel hängt. Mit gesenktem Kopf ist sie in einen schmalen Kleiderschrank gezwängt. „The tragedy of categorizing people“, lautet die Bildunterschrift. Amelies Bilder transportieren Gefühle, erzählen eine Geschichte. Mit dem Dasein einer Influencerin und einem Selbstdarstellungswahn hat das rein gar nichts zu tun.

In „Was ist Wirklichkeit?“ posiert Amelie für keines der Bilder. „Ich hatte von Anfang an eine gewisse Vorstellung von den Models und ihren Haarfarben. Ich selbst hätte da vom Typ her nicht reingepasst“, erklärt sie. In Bezug auf ihre Kunst beschreibt sie sich selbst als Perfektionistin. Alle Bilder sind extrem durchdacht. Ein besonderes Augenmerk legt die Künstlerin auf das Zusammenspiel der Farben. Ihre aktuelle Fotoserie ist sehr bunt und grell leuchtend, was den Bildern einen surrealen Charakter verleiht. Auch alle Motive sind fantasievoll, zeigen Bilder wie aus einer anderen Welt.

Auf einem der Fotos ist eine Frau zu sehen, die aus einer menschengroßen Matroschka schlüpft. Einige Teile der Holzpuppe liegen bereits auf dem Boden, den letzten hält die Frau noch über ihrem Kopf. Jedes Bildelement hat eine eigene Bedeutung. „Dimensionen“ ist der Titel dieses Fotos, das sich auf die Stringtheorie bezieht. „Man geht davon aus, dass es insgesamt elf Dimensionen gibt. In unserem Universum sind vier davon sozusagen entrollt, drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension. Alle weiteren sind vorhanden, aber eingerollt in sogenannte Strings. Ich musste an das Bild einer russischen Matroschka denken. Im Inneren der ersten Puppe verstecken sich immer mehr und mehr kleinere Puppen. Ähnlich verhält es sich auch mit den Strings“, erklärt Amelie.

Wenn die Künstlerin über Antiteilchen, CPT-Symmetrie oder Gravitation spricht, könnte man meinen, dass sie selbst Physik studiert. In einem Portfolio fasste sie die teilweise sehr umfangreichen Theorien zusammen und beschrieb die Zusammenhänge zwischen ihren Fotografien und den wissenschaftlichen Thesen. Bei der Ausstellung der Bachelorabsolventen im vergangenen Juli ergänzte sie ihre Bilder dagegen lediglich mit Zitaten von Hawking. Jedes der Bilder sollte für den Betrachter interpretationsoffen bleiben. Ihre Motivation sei gewesen, dem Publikum Denkanstöße zu liefern. „Was ist Wirklichkeit?“ hat sowohl ästhetischen als auch philosophischen Wert.

Mit ihrem Projekt nimmt die Fotografin an dem Wettbewerb „gute Aussichten – junge deutsche Fotografie 2018/2019“ teil. Einzig die betreuenden Professoren können Arbeiten ihrer Studenten einreichen. Wie es für Amelie weitergeht? Sie weiß es nicht. „Es wäre super, irgendwann von meiner Kunst leben zu können“, sagt sie. Neben ihren Leidenschaften, Kunst und Wissenschaft, spielt auch das Reisen eine große Rolle in ihrem Leben. „All das irgendwann verbinden zu können, das wäre sehr schön“, sagt sie.

Fotos: Amelie Satzger