Versteckspiele und Coming-out: In der türkischen Kultur ist Homosexualität noch immer ein Tabuthema
Von Eser Aktay
Heute muss Leyla Öz (Name von der Redaktion geändert) nicht mehr auf zwei Handys zurückgreifen: Ein „normales“ und ein „lesbisches“ Handy, wie sie es nennt. In der Türkei ist Homosexualität noch immer ein Tabuthema. Leyla, heute 28 Jahre alt, hatte in ihrer Jugendzeit täglich Probleme damit. Dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt und nicht zu Männern, war für sie selbst und ihre Familie ein großes Thema. Was für die westliche Welt heute als selbstverständlich gilt, ist in vielen Ländern- und Kulturkreisen verboten. Für die Freiheit, eine Person unabhängig von ihrem Geschlecht lieben zu dürfen, musste sie lange kämpfen.
Heute lebt Leyla in München und arbeitet in einer Kommunikationsagentur. Sie trägt einen schwarzen Blazer. Damit wirkt sie fast wie eine Geschäftsfrau, die genau weiß, was sie will. Arbeiten macht ihr Spaß. Und berufliche Ziele hat sie sich auch gesteckt. „Mein Ziel ist es, später in der Kommunikationsabteilung eines großen Technologie-Unternehmens zu arbeiten“, erklärt sie. Bereits als Kind interessierte sich Leyla für Technik. Das war schon immer ihre Leidenschaft.
Leyla ist im Norden Deutschlands geboren und wuchs mit ihren zwei Brüdern in einer Kleinstadt auf. Ihr Großvater ist zu Beginn der Achtzigerjahre als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. 1983 folgte ihm Leylas Vater im Alter von 18 Jahren, ihre Mutter kam dann vier Jahre später im Alter von 24 Jahren nach. Als einzige Tochter hatte sie es im Gegensatz zu ihren beiden Brüdern nicht immer so einfach. Oft kam es in ihrem Fall zu alltäglichen Diskussionen – sei es eine bevorstehende Party oder ein längerer Abend mit Freunden. Dann versuchte sie sich durchsetzen. Leyla ist ernst: „Ich musste mir alles erkämpfen.“
Leylas Familie ist weder streng konservativ, noch strikt religiös. Ihr Vater geht zum Freitagsgebet in die Moschee und ihre Mutter betet ab und an abends für das Wohl der Familie. Ihre Eltern ließen ihr und ihren Geschwistern viele Freiheiten. Weder sie noch ihre Brüder geben Religion einen großen Stellenwert in ihrem Leben. Trotzdem fühlt sie sich von ihrer Familie oft nicht verstanden.
Während ihrer Pubertät
kam es immer wieder
zu brenzligen Situationen
Leyla dreht sich eine Zigarette. Den Geschmack von Selbstgedrehten mag sie lieber als von Filterzigaretten. Sie erinnert sich an ihre Schulzeit. So ein richtiges Outing hatte sie nicht, erzählt sie, aber ihre ersten Erfahrungen mit Mädchen machte sie zu jener Zeit. Damals begann für Leyla die Zeit mit den zwei Handys. Sie lacht, als sie davon erzählt, und streicht sich dabei eine Strähne aus dem Gesicht. Sie hatte ein Handy, auf dem sie für ihre Familie und ihre Freunde zu erreichen war. Und das andere Handy nutzte sie, um mit anderen lesbischen, jungen Frauen in Kontakt zu treten, die sie über Online-Communitys und Foren kennenlernte.
Aktuell ist Leyla in einer festen Beziehung. Den Namen ihrer Freundin möchte sie wie ihren eigenen Namen nicht verraten. Familie ist ihr sehr wichtig – deswegen auch die Anonymität. „Ich finde, es gehört zum Leben dazu, eine eigene Familie zu haben. Besonders mag ich den Gedanken, später ein Kind zu haben, dem ich etwas beibringen kann.“ Sie möchte ihm eine starke Persönlichkeit mitgeben. Das ist nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in alltäglichen Situationen lebensnotwendig.
Während ihrer Pubertät kam es auch immer wieder zu brenzligen Situationen. „Im Supermarkt hat mir einmal meine Freundin ein Bussi auf den Kopf gegeben. Das hat dann jemand gesehen.“ Daraufhin erhielt ihr großer Bruder eine E-Mail mit dem Inhalt, er solle besser auf seine „Lesbenschwester“ aufpassen. Aufdringlich forderte ihr Bruder sie auf, beide Handys auszuhändigen. Leyla weiß bis heute nicht, woher er von beiden Handys wusste. Sie wehrte sich, rief ihre Mutter zur Hilfe. Sie hatte Angst, dass alles in diesem Moment rauskommen könnte. Ihre Mutter setzte sich für sie ein und konnte alles abwenden. Schließlich ist das Handy Privatsache. „Meine Mutter stand voll hinter mir“, sagt Leyla stolz. Da sich Leyla für Technik interessiert, kam ihrer Mutter der Besitz von zwei Handys nicht verdächtig vor. Zum Glück. Heute kann sie darüber lachen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste Leylas Mutter noch nichts von der sexuellen Orientierung ihrer Tochter. Nach ihrem Abitur beschloss Leyla, ein freiwilliges soziales Jahr als Krankenpflegerin zu absolvieren. Seitdem hat Leyla die meiste Zeit in WGs gewohnt. Wie auch zum jetzigen Zeitpunkt. „Meine Mitbewohner wussten immer über mich Bescheid.“ Dass sie Frauen mag, war nie ein Problem.
Ihre Mutter wollte sie
nach dem Outing zu einem
Therapeuten schicken
Leyla besucht ihre Familie in Norddeutschland auch heute noch regelmäßig. Mit ihrer Mutter telefoniert sie oft. Während des Studiums war es für sie eine Quälerei, ihre Erfahrungen und ihr Liebesleben mit ihrer Familie nicht teilen zu können. Ihr Outing hatte sie mit 19. Das war nicht geplant, das war dann eher eine spontane, emotionale Reaktion. Damals war sie verliebt. Der Auslöser war ein Film, der einen Kuss zwischen zwei Frauen zeigte. Ihre Mutter reagierte abwertend. „Und? Was ist, wenn ich auch so bin?“, ist es dann aus Leyla herausgeplatzt. Ihre Mutter hat dann geweint. Sie dachte, dass ihr Kind nicht „normal“ sei und wollte sie zuerst zu einem Therapeuten schicken.
Leyla seufzt und hält inne. „Wenn ich das aus der heutigen Sicht betrachte, dann hätte ich es ihr einfach anders erklären müssen. Damals habe ich mich einfach nur angegriffen gefühlt.“ Ihrem Vater hat sie es selbst nie erzählt. Auf ihre sexuelle Neigung hat er sie bis heute nicht angesprochen. Für die Reaktion ihrer Eltern zeigt Leyla viel Verständnis. Sie erklärt das damit, dass ihre Eltern bis zu dem Zeitpunkt mit Thema einfach nicht in Berührung gekommen sind.
Erst vor einigen Wochen besuchte sie ihr kleiner Bruder in München. Er unterstützt Leyla in allem, was sie tut. „Für ihn war das schon immer völlig normal.“ Gemeinsam auf eine queere Veranstaltung zu gehen, ist zumindest für ihn kein Problem. Das bedeutet ihr eine Menge. Mit ihrem großen Bruder ist das anders. Über ihr Privatleben kann Leyla mit ihm nicht sprechen.
Leyla betont immer wieder das gute Verhältnis zu ihrer Familie. Sie muss sich heute nicht mehr verstecken, aber ihr Liebesleben ist noch immer ein Tabuthema am Familientisch. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir dann dasitzen und eigentlich über das Thema reden sollten. Aber das machen wir nicht, weil jeder eben nicht das hören wird, was er hören möchte“, erklärt Leyla. Und sie fügt hinzu: „Aber ich finde es auch nicht schlimm. Es ist in Ordnung.“