Khalida, 14, floh mit ihrer Familie aus Afghanistan. Später möchte sie mal als Anwältin arbeiten, um Asylsuchenden zu helfen.
Nach der Schule möchte Khalida Jura studieren und Anwältin werden. Die 14-Jährige kommt aus Afghanistan und lebt seit einem Jahr in Deutschland. Im September ist sie mit ihren Eltern und den vier Geschwistern in eine Unterkunft in Feldkirchen gezogen, „hier dürfen wir selbst kochen“ sagt Khalida. Davor war die Familie für zehn Monate in einem Ankerzentrum in Fürstenfeldbruck, jetzt sind sie froh, ein bisschen mehr Unabhängigkeit bekommen zu haben. Im Ankerzentrum haben Khalida und ihre Geschwister einen Deutschkurs gemacht, seit diesem Jahr gehen sie jetzt regulär zur Schule. Die macht ihr großen Spaß, ihre Lieblingsfächer sind Deutsch und Englisch, Mathe nicht, „da ist mein Bruder besser“ sagt sie und lacht.
Vor fünf Jahren verließ Khalidas Familie Afghanistan, ihre Heimat, „um an einen Ort zu gehen, der Sicherheit gibt und an dem wir alle unsere Probleme hinter uns lassen können“, sagt Khalida. Über den Iran und die Türkei nach Griechenland, „es war sehr mühsam, als wir den Weg begonnen haben. Wir waren viele kleine Kinder und hatten viele verschiedene Probleme.“ Khalida ist mit ihren 14 Jahren die Älteste der fünf Geschwister. In Griechenland kam die Familie in ein Camp und nach zwei Jahren in eine Wohnung. Nach weiteren zwei Jahren wurden sie dort rausgeschmissen, „sie haben uns gesagt, geht weiter und schaut selbst“, erzählt Khalida. Die Eltern sprachen kein Griechisch. Und die Kinder waren zu klein zum Arbeiten. Die einzige Möglichkeit sei gewesen, es woanders zu versuchen. So kam die Familie nach Deutschland, wurde nach München geschickt und kurz darauf nach Fürstenfeldbruck.
Dass Khalida unbedingt Anwältin werden will, seit sie zwölf Jahre alt ist, hat auch viel mit ihrer persönlichen Geschichte zu tun. Sie möchte andere Asylsuchende unterstützen können, weil sie weiß, dass sich viele von ihnen einen Anwalt nicht leisten können. Auch bekommen verbindliche Gesetze eine andere Bedeutung, wenn das eigene Leben im Heimatland permanent bedroht war.
Als ältestes Kind musste Khalida schon früh viel Verantwortung übernehmen, sie spricht Griechisch, Englisch, Deutsch und ihre Muttersprache Farsi.
„Khalida ist sehr intelligent und kreativ, sie kann gut reden und gut ihre Gedanken ausdrücken“, sagt Guido Terlinden von Refugio München. Der promovierte Kinder- und Jugendpsychiater betreut die 14-Jährige und hilft ihr dabei, mit den schlimmen Erlebnissen aus ihrer Vergangenheit umzugehen. Terlinden ist einer von drei Therapeuten im Kinder- und Jugendbereich von Refugio. Aktuell betreut er ungefähr 30 Geflüchtete im Alter von vier bis 21 Jahren, viele bringen traumatische Erlebnisse mit, können nachts nicht schlafen und sich in der Schule nicht konzentrieren.
Um seine Arbeit zu erklären, holt Terlinden ein laminiertes Blatt Papier aus einer Schublade in seinem Büro. Zwei Fotos sind darauf zu sehen. Auf dem linken ein Kleiderschrank, der vor Hosen, Jacken und Hemden nur so überquillt, jeden Moment droht etwas rauszufallen. Auf dem rechten der gleiche Schrank, diesmal das komplette Gegenteil, alles ordentlich gebügelt und zusammengelegt. „Bei vielen meiner Patienten sieht es im Kopf so aus“, sagt der Therapeut und zeigt auf das linke Bild. „Und dann geht der Schrank immer wieder auf, weil etwas rauspurzelt oder sich bemerkbar macht. In der Therapie räumen wir also alles raus, falten es ordentlich und legen es dann wieder rein.“
Bei vielen traumatisierten Jugendlichen ginge es am Anfang darum, ihre Gefühle und Gedanken überhaupt erst wieder wahrzunehmen und vielleicht auch Ressourcen zu erkennen, die man dann aktivieren könne. „Ein Patient von mir saß zum Beispiel schon als kleiner Junge in seinem Heimatland immer auf großen Pferden und hat diese auch versorgt. Mit zwölf Jahren hat er dann ein schlimmes Schicksal erlitten und ist seitdem sehr ängstlich und schüchtern. Deswegen versuchen wir, ihn jetzt wieder an einen Pferdestall hier zu vermitteln“, erzählt Terlinden.
Während des ersten Lockdowns im Frühjahr sei die Situation teilweise schwierig gewesen, bis Ostern gab es nur Notfallsprechstunden bei Refugio. Videokonferenzen scheiterten häufig daran, dass die Patienten in ihren Unterkünften kein Internet zur Verfügung hatten. Von Ostern an hätten die Therapien dann wieder normal stattgefunden, das sei auch wichtig gewesen, sagt Terlinden, „wenn gestresste Menschen miteinander auf engem Raum leben, ist Quarantäne erst mal schwierig“.
Wenn Khalida zur Therapie kommt, ist auch immer Zahra Sharify dabei, sie ist eine der Dolmetscherinnen für die Sprachen Dari und Farsi bei Refugio München. Auch sie kennt Khalida inzwischen gut, kann dem Mädchen helfen, ihre Gedanken in ihrer Muttersprache auszudrücken. Das sei nicht immer leicht, sagt Sharify, „wir können zum Beispiel Redewendungen nicht immer wortwörtlich übersetzen“. Es sei ein großer Vorteil mit festen Dolmetschern zusammenzuarbeiten, sagt auch Guido Terlinden, nicht wie in der Klinik, wo meistens Telefondolmetscher eingesetzt würden.
„Eine Erleichterung“ nennt Khalida diese Stunden, „sie helfen mir, die Vergangenheit zu verarbeiten und in die Zukunft zu schauen.“ Aber es ist ungewiss, wie viele Stunden Khalida und andere Geflüchtete noch bekommen können, denn häufig fehlt dafür das Geld. Die Finanzierung der Therapien sei oft schwierig, sagt Terlinden, die Geflüchteten hätten während des Asylverfahrens lediglich Anspruch auf eine Notfallbehandlung, „und eine Psychotherapie wird da in selteneren Fällen bewilligt“.
Von Anton Kästner