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Die Stadt gehört auch uns

Sonnenblumen an der Bushaltestelle, ein Theaterstück auf einer Kreuzung, Kurzfilme an Hauswände projiziert. 30 Studenten wollen München schöner machen – mit Aktionen am Rande der Legalität.

Von Amelie Völker

Trambahnschienen, Lüftungsschächte, Straßenbeleuchtungen. Als Blickfang kann man den Grünstreifen zwischen Stachus und Sendlinger Tor nicht bezeichnen. Doch in wenigen Wochen werden hier Blumen blühen, Sonnenblumen in der Sonnenstraße. Auch an weiteren Orten in München werden Sonnenblumen sprießen, neben Bushaltestellen, an Straßenecken, auf vernachlässigten Grünflächen eben. Heimlich gepflanzt von Akteuren aus Münchens neuer Untergrund-Bewegung. Sie nennen sich „die Städtischen“. Dahinter stecken circa 30 junge Kreative aus München. „Ein Projekt junger Menschen aus verschiedenen Disziplinen. Von uns für alle“, steht auf ihrer Internetseite. Die Sonnenblumen haben sie am 1. Mai, dem internationalen „Sunflower Guerrilla Gardening Day“, gesät: An diesem Tag pflanzen jedes Jahr Guerillagärtner auf der ganzen Welt Sonnenblumenkerne an öffentlichen Orten. Doch diese Aktion ist erst der Anfang. „Die Städtischen“ haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Möglichkeiten des öffentlichen Raum Münchens aufzuzeigen. Denn trotz Wohnungsknappheit gibt es auch hier noch viel ungenutztes Potenzial. Geplant sind unterschiedlichste Projekte, die über eine Woche hinweg im öffentlichen Raum Münchens stattfinden sollen. Die Pläne wurden – wie so vieles – zunächst von der Coronakrise durchkreuzt. Doch „die Städtischen“ basteln weiter an ihrem Vorhaben. Es ist ein Vorhaben, das Lust und Hoffnung auf den Münchner Sommer im Freien macht: ein Theaterstück mitten auf einer Straßenkreuzung, Kurzfilme projiziert an Hauswände in der Münchner Innenstadt, die Verschönerung eines bisher ungenutzten Innenhofs in Schwabing. „Natur ist mit Lebensqualität verbunden“, sagt Simeon Wagener, 21, Umweltingenieurwesen-Student.

„Wir möchten mit wenig Aufwand mehr Natur und somit mehr Lebensqualität in die Stadt bringen.“

Casablanca, Marokko. Anouar Mahmoudi, 24, sitzt Anfang Mai auf der Dachterrasse des Hauses seiner Familie. Seine schwarzen Locken wehen im Wind und im Hintergrund hört man den Muezzin zum Gebet aufrufen. Eigentlich sollte sein Besuch hier vor eineinhalb Monaten nur ein kurzer werden, ein Zwischenstopp auf einer Recherchereise fürs Studium. Anouar nutzt diese Zwangspause nun, um sich auf „die Städtischen“ zu konzentrieren. Dieses von ihm initiierte, interdisziplinäre Gemeinschaftsprojekt soll im städtischen Raum seiner Heimatstadt München, „im Draußen“
stattfinden. „Jeder hat doch gerade einen gewissen Hunger nach draußen,“ sagt Anouar und schaut in den marokkanischen Himmel, „durch die ganze Situation schätzen die Menschen den städtischen Raum viel mehr“.

Das Planen von Großprojekten, die nicht nur im Freien, sondern auch noch mit einigen Menschen stattfinden sollen, ist in Zeiten von Corona natürlich risikoreich. Aber auch hoffnungsvoll. „Sobald es die Situation wieder zulässt, werden wir bereit sein,“ sagt Anouar. Und sein Tatendrang ist selbst über die Entfernung und durch einen verpixelten Video-Call spürbar.

München, im Januar. Anouars achtes und letztes Semester steht kurz bevor, er studiert Architektur an der TU München. Schon immer fasziniert ihn das Thema Raum und dessen unkonventionelle Möglichkeiten. „Alles ist eine Frage von Raum“, „der Raum definiert die Aktion“, solche Sätze sagt er häufig. Aus dieser Faszination gründet sich auch Anouars Motivation für dieses Projekt: „Der öffentliche Raum Münchens und seine Chancen sollten mehr genutzt und geschätzt werden“, sagt er. Anouar beschließt, die Zeit neben seinem Studium zu nutzen, um gemeinsam mit kreativen Wegbegleitern diverse Projekte umzusetzen. Bevor sich seine Mitstudenten und Freunde nach Abschluss des Studiums in der ganzen Welt verteilen, möchte er mit ihnen noch Großes kreieren. „Wir leben nicht lange genug, um Dinge allein zu schaffen“, sagt Anouar, „diese Dynamiken, die Studenten gemeinsam für Non-Profit-Projekte entwickeln können, sind einmalig.“

Anouar begeistert vor ein paar Monaten auf die Schnelle circa 30 Menschen zwischen 20 und 25 Jahren für seine Ideen. Die jungen Münchner stammen aus den verschiedensten Bereichen: Sie studieren Umweltingenieurwesen, Psychologie, Architektur, Landschaftsplanung, Lehramt, Filmregie, Gesundheitswissenschaften, Jura, Germanistik oder Informatik.

Im März werden die Planungen für das Projekt konkreter. Dann spitzt sich die Corona-Krise zu. Und Anouar sitzt in Marokko fest. „Erst brachte die neue Situation natürlich eine große Ernüchterung bei allen mit sich“, sagt Anouar. Doch an Aufgeben hätten sie nie gedacht. „Es ist natürlich für uns alle eine große Herausforderung, aber wir lernen täglich dazu,“ sagt auch Louis Lafos, 21, Germanistikstudent an der LMU, der bei insgesamt drei Projekten tätig ist. „Die Städtischen“ kommunizieren über wöchentliche Video-Calls, und nach einer Weile stellt sich sogar das Gegenteil aller Erwartungen ein: „Alle waren plötzlich trotz – oder gerade wegen – der Corona-Zwangspause, noch motivierter als je zuvor und die Zeit zu Hause, hat die Kreativität noch mal ungemein gesteigert“, sagt Anouar. Nun sollen die Projekte Mitte August starten, mit dem Datum sind sie jedoch flexibel. „Selbst, wenn sich die Situation erst im Dezember verbessert, werden wir eben dann erst starten“, sagt er.

Schon jetzt kleben an Mauern der Uni, an Litfaßsäulen vor der Münchner Freiheit oder an leeren Schaukästen neongelbe, -grüne, oder -orangene Reißblätter. Sie sind auffällig. So auffällig, dass man gar nicht anders kann, als stehen zu bleiben und sie sich näher anzusehen. Auf den Zetteln befinden sich gedruckte Gedichte oder Texte, geschrieben von Mitstreitern der Gruppe, „von Autoren, die wohl davor nie wirklich den Mut hatten, mit ihren Texten an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt Louis Lafos, der dieses Begleitprojekt koordiniert. Louis sieht „die Städtischen“ daher als bereichernde Plattform an, die, wie er sagt, „sich alle Mitglieder mit dieser Aktion untereinander für ihr kreatives Tun geben und die gleichzeitig für jeden öffentlich zugänglich ist.“ Passend zur derzeitigen Situation heißt es auf einem der Neonblätter, geschrieben von Louis: „Die tollsten Dinge vermisst man erst, wenn sie nicht mehr da sind. Das beflügelt, belebt, verändert uns und unsere Wahrnehmung von so vielen Sachen.“

Auch Projekte mit politischer Message sind vorgesehen: „Das Haus brennt“ ist der Titel einer geplanten Kunstaktion im Erdgeschoss einer Münchner Wohnung. Armin Aschenbrenner, 24, Architekturstudent, wohnt hier. Er will die Fenster mit dem Satz „Das Haus brennt“ bekleben sowie an jedes Fenster eine Aufnahme eines anderen umweltschädlichen Brands auf der Welt projizieren.

Für das große Finale der Festivalwoche ist eine Open-Air-Party vom Bushbash-Kollektiv inklusive Kunstinstallationen angedacht. Wo dieser Rave stattfinden wird, bleibt bis kurz vor dem Event geheim. Wie es bei derartigen Underground-Raves der Fall ist, so bewegen sich auch manche der Aktionen „der Städtischen“ am Rande der Legalität. Das ist auch der Grund, warum die Mitglieder auf ihren Aktionsfotos unkenntlich gemacht werden.

Für Anouar ist es daher auch wichtig zu betonen, dass alle Projekte „minimal-invasiv“ und keine demonstrativen Protestaktionen sein sollen. Sondern Ideen, um den öffentlichen Münchner Raum kreativ und auf neue Art zu nutzen, teilweise zum Nachdenken anzuregen, aber auch zu zelebrieren. „Der öffentliche Raum steht normalerweise nicht nur für draußen sein, sondern für gemeinsam draußen sein,“ sagt Anouar. Die Crew wolle mit ihrem bunten Programm Münchner Räume und Plätze, die momentan gezwungenermaßen leer stehen, wiederbeleben. Sei es mit Menschen, oder mit Pflanzen. Simeon sagt: „Unsere Motivation ist, das Stadtbild von München aktiv mitzugestalten. Wenn ich bald ein paar Sonnenblumen in München sprießen sehe, gibt mir das schon das Gefühl, ich hätte eine Kleinigkeit zum Guten verändert in der Stadt.“