Der Stoff der Freiheit

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Es ist ein schweres Thema: In ihrer Bachelorarbeit beschäftigt sich Bloggerin und Modedesignerin Alice M. Huynh mit der Flüchtlingsgeschichte ihrer Eltern. So ist die Kollektion “Fresh off the Boat” entstanden, die mit funktionalen Schnitten und dunkeln Farben versucht, die Vergangenheit der Eltern spürbar zu machen.

Lädierte Stoffe, ausgewaschene Farben, Risse oder beschmutzte Stellen wären zu offensichtlich gewesen. Zu plakativ für die ernste Thematik, die Alice M. Huynh, 24, in ihrer Bachelorarbeit aufgegriffen hat. Zum Abschluss ihres Modedesign-Studiums an der Akademie für Mode und Design München arbeitete Alice ein schweres Stück Familiengeschichte auf. Ihre Abschlusskollektion mit dem Titel „Fresh off the Boat“ erzählt von den Flüchtlingserfahrungen ihrer Eltern während des Vietnamkriegs. Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater mussten in den Siebzigerjahren aus Vietnam fliehen. Für ihre Abschlussarbeit führte Alice mit beiden Interviews und erfuhr dabei bewegende Details, die sie anfangs nur unter Tränen weitererzählen konnte.

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Im Alter von 17 Jahren gelang ihrer Mutter und ihrer Familie die Flucht vor den Kommunisten. Nachdem sie sich mehrere Tage in einem kleinen Fischerdorf versteckten, kamen sie auf See. Nach sechs Tagen und sechs Nächten landete die Familie in Japan, wo sie nach langem Warten ein Visum für Deutschland erhielten. Auch der Vater, der aus einer chinesisch-stämmigen Familie kommt, war gerade einmal 17 Jahre alt, als er ganz allein aus Vietnam floh und ebenfalls sechs Tage und sechs Nächte auf See verbrachte. Daran erinnernd, besteht die Abschlusskollektion aus zwölf Looks. Für zehntausend Dollar besorgte der Großvater ihrem Vater einen Platz auf dem Flüchtlingsboot. Seine Erzählungen haben Alice besonders geprägt. „Niemand möchte hören, wie der eigene Vater miterlebt hat, dass Frauen vergewaltigt worden sind“, sagt Alice. Das Boot, auf dem sich ihr Vater befand, wurde jede Nacht von Piraten gekapert oder von der Marine angehalten. Frauen wurden missbraucht, Männer erschossen oder ins Meer geworfen. Alice erzählt, dass dem Vater selbst ein Maschinengewehr ins Gesicht gehalten wurde und zeigt dabei mit den Händen, wie groß die Waffe gewesen sein muss. Nachdem er schließlich zwei Nächte am abgesperrten Strand vor Malaysia im seichten Wasser verbrachte, kam er auf eine Flüchtlingsinsel und – nach einer langen Wartezeit auf ein Visum – nach Deutschland. 

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„Es ist ein dunkles Kapitel meiner Eltern. Trotzdem sollte die Mode nicht traurig oder dramatisch werden. Die Kollektion ist supermodern, vielleicht sogar ein bisschen witzig durch die ungewöhnlichen Stoffe und Schnitte“, sagt Alice. Ihr Anspruch an die Kleidung: Tragbarkeit. „Wenn ich mich nicht wohlfühle oder in meinen Bewegungen eingeschränkt bin, ist das kein gutes Kleidungsstück“, sagt sie. Darum setzt „Fresh off the Boat“ auch auf Funktionalität. „Für mich war zentral: Sie sind geflohen und hatten nur das am Leib. Es musste praktisch sein“, erklärt die Designerin. Das zeigt sich in ihrem geradlinigen, minimalistischen Stil, den sie ihren westlichen Einflüssen zuschreibt.
 Erst beim genauen Hinsehen findet man Details, wie zum Beispiel die Taschen an einem Kleid. Der Hintergedanke: „Du musst etwas verstecken!“ Ihr Vater hatte vor der Flucht Geld in seinen Hosenbund eingenäht. Aber ebenso hat Alice traditionelle Elemente wie einen Kimonoschnitt aufgegriffen. Auch die weiten, langen Ärmel hat sie sich in der asiatischen Modekultur abgeguckt. In ihrer Kollektion stehen sie für das Gefühl der Verlorenheit. 

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Alice hat sich schon selbst oft gefragt, zu welcher Kultur sie gehört. Geboren und aufgewachsen ist sie in Oberstdorf im Oberallgäu, wo ihre Eltern asiatische Restaurants betreiben. Dennoch komme immer wieder die „Wurzelfrage“, wie sie es nennt, auf: „Bin ich vietnamesisch, chinesisch oder deutsch? Ich habe einen deutschen Pass und werde trotzdem immer wieder gefragt: Was bist du? Ich antworte dann: Deutsch. Aber das Fragen geht weiter.“ Ein Cardigan aus der Kollektion, der nur eine Hälfte des Oberkörpers bedeckt, soll genau auf diese Zerrissenheit hinweisen. 

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Bis auf zwei Teile ist alles komplett in Schwarz gehalten. Wer Alice und ihren erfolgreichen Mode-Blog „I heart Alice“ kennt, weiß, dass sie selbst hauptsächlich Schwarz trägt. Eintönig? Nicht für Alice: „Schwarz kann sowohl zurückhaltend als auch total laut sein. Eine Farbe wie Rot drückt immer nur ein Signal aus. In einem schwarzen Kleid kannst du hingegen elegant, bieder oder eine Femme fatale sein. Schwarz ist kein Gefühl, sondern ein Zustand“, erklärt sie. Die zwei farbigen Ausnahmen der Kollektion sind in einem Gold-Kupfer-Ton gehalten und repräsentieren den letzten Hoffnungsschimmer der Flüchtlinge.

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Um die verwendeten Materialien noch besser zu erklären, holt Alice ein Album, ebenfalls in Schwarz, aus ihrer schwarzen Handtasche. Ihr Inspirationsbuch mit Bildern, Skizzen und Stoffmustern. „Bei diesem hier wusste ich erst nicht, ob er hässlich ist“, sagt Alice und streicht mit dem Zeigefinger über ein Stück Stoff mit Kreisen, an denen dichte, schwarze Fäden befestigt sind. Darin sieht Alice die Hinterköpfe und wehenden Haare von flüchtenden Frauen. Solche Szenen habe sie mehrmals in Dokumentationen und auf Bildern gesehen. Wieder blättert Alice in ihrem Buch, zwei Seiten vor und drei zurück. Hier befindet sich ein Fetzen Moiré, ein Stoff mit baumstammähnlicher Musterung. Auch hierzu hat Alice eine Geschichte parat. Während des Wartens auf das Visum bekam ihr Vater eine Wochenration von einem Sack Reis, einer Büchse Sardinen und etwa zehn Liter Süßwasser. Als er sich so sehr nach Vitaminen und frischer Kost sehnte, aß er Blätter und Baumrinde. 

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Die gesamte Kollektion ist unisex, für die Abschlusspräsentation ihrer Arbeit wählte sie männliche und weibliche Models. Sie alle gingen barfuß und mit Frühlingsblumen im Mund über den Laufsteg. Alles sollte natürlich sein.Dass sie schließlich den Titel „Best Graduate“ erhielt, hatte sie nicht erwartet. Eine von der Schule unabhängige Jury wählte die drei besten Absolventen aus. Auch die Einladung zur Fashion Week im Sommer kam überraschend. Trotz dieses Erfolgs hat sich Alice dazu entschlossen, nicht als reine Designerin durchzustarten. Sie träumt weder von Selbständigkeit noch von einer eigenen Boutique. Sie sagt: „Ein Store ist schön und gut. Aber brauche ich das heutzutage wirklich noch?“ Seit acht Jahren pflegt sie ihren Mode-Blog, bei dem sie auch ihre eigene Kleidung präsentiert. Das möchte sie jetzt weiter ausbauen, eventuell mit einem Online-Shop zum Verkauf handgefertigter Kleidungsstücke. Auch Teile von „Fresh off the Boat“ möchte sie dann zum Kauf anbieten.

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Aus dem Schicksal der eigenen Familie ein Geschäft machen? Ein heikles Unterfangen, das weiß Alice. Doch gerade die Eltern sind es, die Alice in diesem Vorhaben unterstützen: „Mein Vater vergleicht es immer mit den Vögeln: Die brauchen am Anfang auch Hilfe von ihren Eltern, bis sie es alleine schaffen und auf eigenen Beinen stehen“, sagt Alice. Hilfe, das ist in Alice’ Familie: Viel darüber reden, was damals passiert ist, die Geschichte weiter tragen, zeigen, dass man „trotz all des Leids letztendlich noch glücklich werden kann“. Das tut Alice – mit ihren Kleidern. Inzwischen hat sie das so oft gemacht, dass sie auch nicht mehr weinen muss, wenn sie von den Eltern und der Flucht erzählt. „Ich habe es nicht miterlebt“, erklärt Alice, „aber ich kann im Gesicht meiner Mutter sehen, wie hart es damals gewesen sein muss.“  Bettina Pfau

Fotos: TheAlphaKiks, Christoph Schaller

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Alice’ Blog ist unter http://www.iheartalice.de zu erreichen.