Foto: Tim Jenni

Augen zu und durch

Gefühle zeigen: der Künstler Mauricio Cervilla Fischer

Von Annika Kolbe

Die Konturen schroff, der Mensch so sanft. Seit 25 Jahren malt Oda Fischer. Kaum einer bekommt davon etwas mit. Ihre Familie weiß davon, klar. Und ihr Enkel, Mauricio Cervilla Fischer. Oda Fischer ist 81 Jahre alt. Und wenn alles klappt, wird sie heuer zum ersten Mal ihre Werke ausstellen, gemeinsam mit ihrem Enkel. Er hatte die Idee, eine „Enkel-Großmutter generationsübergreifende Ausstellung“ auf die Beine zu stellen. Kein Wunder, seine Großmutter hat ihn zur Kunst gebracht.

Ein Besuch bei Mauricio, 27. Leise tropft der Regen auf das Glasdach. Es ist dunkel. Licht durchflutet den Raum, in dem Mauricio gerade malt. Leinwände reihen sich am Rande des Raums. Paketpapier steht zusammengerollt an der Wand. Mauricio spannt das Papier über eine Holztafel. „Das ist günstiger“, sagt er. Er dreht sich um. Nun steht er mit dem Rücken zum aufgespannten Papier um seine Farben zu mischen. Das saftige Grün mischt sich mit dem grellen Orange. Er geht in sich, wählt einen dicken Pinsel. Dann schließt er seine Augen. Er dreht sich zum Papier. Seine Hand tanzt im Takt des Regens über das Papier.
Gedanken rattern. Willkommen in der Welt des jungen Künstlers. Die Welt kann überfordern. Allheilmittel zum Verständnis unserer Welt oder zur Lösung von Problemen gibt es so einfach nicht. In der heutigen Zeit scheint die Oberfläche wichtiger zu sein als das wahre Ich. Oft wird nur die Oberfläche präsentiert. Das ist einfacher. Schuld daran sind nicht nur die sozialen Netzwerke. Doch warum ist der Schein präsenter als das Sein? Die Gedanken kreisen um die Oberfläche, um das Darstellen. Ist das eine Art der Resignation, um sich nicht mit dem Wahren beschäftigen zu müssen? Kann man nur so in der großen weiten Welt bestehen? Nein.
Mauricio hat sich gegen die Oberfläche und für das Innere entschieden: „Es geht immer um das Sich-Zeigen“, sagt er. „Die ganze Zeit. Permanent. Ich habe nicht das Bedürfnis, meine Oberfläche zu zeigen. Ich möchte mich auf das Wesentliche besinnen, das Innere, mein wahrhaftiges Selbst.“

Mauricio fand einen Weg, seine Gefühle und Gedanken zu verarbeiten und zu verstehen. Er malt sozusagen blind. „So bin ich mir am nächsten. Ich brauche keine Zahlen und Formeln – nichts Rationales“, sagt er. Die Technik des blinden Malens heißt blinde Kontur. „Ich halte meine Augen geschlossen und lasse meiner Intuition freien Lauf. So kann ich zum einen auf mein Unterbewusstsein zugreifen, zum anderen verliere ich jegliche Kontrolle über mein Tun, eben rein intuitiv“, erklärt Mauricio. Malen ist sein Hobby, sein Geld verdient er als Filmemacher.

Was seine Kunst betrifft, spielt seine Großmutter eine herausragende Rolle. Sie prägte seinen Stil zu malen und zu zeichnen: „Mit 13 oder 14 versuchte ich, eine Boxerfigur so detailgetreu wie möglich darzustellen.“ Das Ergebnis war nicht so, wie er sich das vorstellte. Er erinnert sich: „Meine Großmutter beobachtete mich. Ich sollte meine Augen schließen und aus meiner Erinnerung zeichnen. Das Ergebnis war erstaunlich. Der Boxer wirkte lebendig“, sagt er.
Gerd Scheuerer, ein Bekannter seiner Großmutter und Münchner Künstler, nahm Mauricio später als Schüler auf. Gleich bei ihrem ersten Treffen ließ er Mauricio ein Selbstporträt fertigen. Mauricio musste seine Augen schließen und sein Gesicht ertasten. „Das war eine ganz neue Art, mich zu erfahren“, erzählt er.

„Für fotorealistische Bilder brauchte ich meine Augen. Ich wollte so detailliert wie möglich malen“, erzählt Mauricio. So unterschiedlich fotorealistisches Malen und Filmemachen auch sind, haben sie eines gemeinsam. Der Fokus liegt auf den Details. Darum geht es Mauricio heute aber nicht mehr. Sowohl beim Malen als auch Filmemachen muss die Welt auseinandergenommen werden. Doch beim Film dürfen keine logischen Fehler passieren. Die Idee des Films bleibt immer klar vor Augen. „Beim blinden Malen kann ich die Genauigkeit des Films vergessen.“

Mauricio öffnet seine Augen. Er betrachtet die über dem Werk verteilten Fragmente, einzelne Erinnerungen. Häufig ist alles durcheinander oder das Bild drückt die Geschichte nicht aus. Blind entsteht das Grundgerüst des Bildes. Mit offenen Augen geschieht nun der Feinschliff. Elemente werden verbunden, stärker hervorgehoben oder für ihn verständlicher gemacht. Das blinde Malen öffnete Mauricio andere Perspektiven.

Oft wird Mauricio gefragt, was auf seinen Bildern zu sehen ist – aber darauf weiß er keine Antwort. Es geht um die Emotionen, die zunächst der Künstler empfindet und dann der Betrachter. Und es geht um die verarbeiteten Erfahrungen oder seine durchlebten Gedanken. Eines versprechen seine Bilder ganz bestimmt – Authentizität und Ehrlichkeit.

Auch heute noch besteht ein sehr enges Verhältnis zwischen Mauricio und seiner Großmutter. „Wir zeigen uns regelmäßig unsere Bilder und tauschen uns aus,“ sagt Mauricio. „Es ist so schade, dass ihre Bilder mehr oder weniger verstauben.“ So begann Mauricio die Werke seiner Großmutter und Lehrerin, zu fotografieren und zu katalogisieren. Es entstand die Idee einer gemeinsamen Ausstellung. „Underground-Locations findet man immer. Bei Galerien ist das schon schwieriger. Wir wollen aber unbedingt dieses Jahr noch ausstellen, mal sehen wo.“

Foto: Tim Jenni