Zeichen der Freundschaft: Gemeinsame Schwäche

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Im Matheunterricht war selbst konzentriertes Aufpassen für die zwei Banknachbarinnen aussichtslos. Stattdessen wurde es zum Ritual, sich mit einem ausgieben Brunch, vom Geschehen an der Tafel abzulenken. Unsere Autorin erzählt, wie geteiltes Leid zu einer engen Freundschaft wurde.

Fast hätte ich Ohrenkrebs bekommen. Die deutsche Grenze
haben wir auf der Reise mit dem Zug nach Trento schon überquert. Es war
sicherlich gut gemeint vom Bahnmitarbeiter, ab jetzt alle Durchsagen zusätzlich
auch auf Italienisch zu machen. Vermutlich hat er die Worte einfach nur
abgelesen. Mir gegenüber sitzend grinst Franzi mich an. Kaum ist die Ansprache
beendet, prustet sie los: „Hahah, also selbst wenn man kein Italienisch kann,
merkt man, dass die Durchsage sehr peinlich war.“ Da liegt sie absolut richtig.
Ich stimme zu und äffe die Worte nach. Gemein, aber witzig. Als Muttersprachler
darf man das schon mal.

Die vierstündige Fahrt ist mal lustig, mal ruhig, mal dösen
wir weg, oder schauen verträumt aus dem Fenster. Gespannt, auf das, was uns an
diesem verlängerten Augustwochenende erwarten wird. Ein richtiger Urlaub war
für uns beide aus Zeit- und Kostengründen nicht drin. Die Entscheidung fiel
deshalb auf einen Kurztrip in die italienischen Berge.

Franzi – die ich meistens liebevoll Francesca nenne – und
ich, kennen uns aus Schulzeiten. Was uns damals eng miteinander verband, war
eine heftige Abneigung gegen die Mathematik. Leidenschaftlich unterpunkteten
wir gemeinsam in fast jeder Klausur. „Franziska, Oanellaaa: i woaß ja dass ihr
zwei nur daherin seids, weil’s warm is‘, aber dann seids bittschön a bisserl
leiser.“, selbst unser Lehrer hatte sich damit abgefunden, dass wir das Reich
der Zahlen nie spannend finden würden. Also duldete er uns im Unterricht. Während
die Superbrains der ersten Reihe also eine krasse Performance nach der anderen hinlegten,
machten wir hinten unsere traditionelle Mathe-Brotzeit und betrachteten das
Schauspiel, von dem wir nur wenig verstanden.

Wenn es das Scheitern auf mathematischem Gebiet nicht
gegeben hätte, würden Franzi und ich heute vielleicht nicht zusammen im Zug
sitzen und uns auf das Sommerwochenende freuen. Mathe hatte also auch etwas
Positives. Geteiltes Leid ist halbes Leid. In unserem Fall entstand hieraus
eine Freundschaft. Ich weiß nicht mehr genau wann es war (und auch nicht
warum), aber irgendwann begann ich mit der Italianisierung ihres Namens. Als
Franzi in Australien süße Koalas streichelte, fingen meine Nachrichten immer
mit: „Liebe Francesca…“ an und endeten meistens mit: „Du fehlst.“
Ja, meine Francesca fehlte sehr. Sie hat nämlich diese wundersame Gabe, meine
Gedanken anhand meiner Blicke zu identifizieren. Das macht so vieles einfacher,
ist aber auch unheimlich, das muss ich zugeben. Sie kennt mittlerweile auch die
unschönen Seiten meiner Persönlichkeit und hat mich trotzdem gern. Das
Schönste: Als sie nach einem Jahr wieder zurück war, fühlte sich an, als ob sie
nie weg gewesen wäre.

Franzi alias Francesca hat mit mir in Trento natürlich den
Jackpot geknackt, denn alle Gespräche auf Italienisch, im
Hotel, am Ticketschalter im Museum, oder beim Essen bestellen

übernehme ich. Nachdem Franzi meine
Gedanken gelesen hat, bestellen wir am vorletzten Abend in Trento eine Pizza
mit Spinat und Ricotta und teilen sie uns. Die Sonne ist schon hinter den
Bergen untergegangen, aber es weht immer noch eine warme Sommerbrise über den
Platz auf dem wir sitzen und genüsslich essen. Und da sitzen wir also, erinnern
uns an die Schulzeit. Lachen. Essen. Ich höre Franzi zu, wie sie mir erzählt,
von ihrem Studium. Sie studiert Gebärdensprachdolmetschen und wenn sie davon
spricht spüre ich die Leidenschaft, die sich dahinter versteckt. So zieht sich
mich immer wieder in den Bann. Am faszinierendsten sind ihre Geschichten aus
Äthiopien. Dort hat sie für ihr Studium mehrere Wochen in einer
Gehörlosenschule verbracht.

Es ist spät geworden. Wir holen uns noch ein Eis und
schlendern zurück ins Hotel. Den ganzen Weg über unterhalten wir uns. Über
unsere Zukunftsträume, aber auch über Ängste und Sorgen und meine nervige
Hausarbeit, die sich einfach nicht von alleine schreiben will. Im Hotelzimmer
angekommen machen wir noch kurz Pläne für den nächsten Tag, dann liegt jeder
schon in seinem Bett. Es ist still geworden in unserem Zimmer. Während Franzi
noch in einer Zeitschrift blättert, habe ich mein Buch weggelegt und bin schon
fast eingeschlafen. Wir haben nicht mehr viel gesprochen. Außenstehende würde
das jetzt vielleicht seltsam finden: Zwei Mädels, die nicht bis tief in die
Nacht quatschen? Ja, so etwas gibt es. In einer Freundschaft muss man auch
zusammen schweigen können.

Hinter uns liegen unbeschwerte Tage, eine schöne
Berglandschaft und viel gutes Essen. Es ist der letzte Tag in Trento und wir
kaufen im Supermarkt noch ein bisschen Proviant für die Rückreise ein. Am
Bahnhof in München verabschieden wir uns mit einer festen Umarmung. Als ich
abends zuhause meinen Koffer auspacke, schreibt mir Franzi per WhatsApp: „Gute
Nacht meine Liebe, waren schöne Tage. Wiederholungsbedarf! Schlaf gut, Busserl
von deiner Francesca.“

Ich grinse. Sie hat die Italianisierung bestens angenommen.

Text: Ornella Cosenza

Foto: Yunus Hutterer