Unser Autor Linus will diese Woche so wenig wie möglich vom Mainstream der aktuellen deutschen Charts wissen, und sucht sich lieber Konzertabende mit mehr Anspruch. Dazu geht es zum Lesen nach draußen auf den Odeonsplatz.
Von Linus Freymark
Ein Blick in die deutschen Spotify-Charts ist zur Zeit ziemlich ernüchternd: Auf Platz eins etwa steht gerade Capital Bra mit Samra und der Sängerin Lea, die in „110“ von einem imaginären Streit zwischen einem Pärchen erzählen, der damit endet, dass der Nachbar von oben die Polizei ruft, um dem Geschrei ein Ende zu bereiten. Auf Platz 32 beschäftigt sich die gleiche Besetzung (nur ohne Lea) in „Wieder lila“ mit der Farbe der Geldscheine in ihrem Portemonnaie und auf Platz sieben hat Summer Cem einfach mal einen Song geschrieben, der genauso heißt wie er selbst und der natürlich davon handelt, was er für ein krasser Dude ist.
Dass Musik auch mehr kann, zeigt der Mannheimer Sänger Blinker, der am Freitag ein Gastspiel in der Milla gibt. Blinker liefert gesellschaftskritischen Indie-Pop, in dem er obendrein von der Erwartungshaltung seiner Eltern und seinem Umfeld berichtet, von denen er sich bis heute nicht ganz freimachen kann. Dass der Kerl mit den bunten Haaren nicht in die Juravorlesungen passt, die er zwei Jahre lang besucht hat, sieht man eigentlich direkt.
Doch dass nicht nur Indie, sondern auch Hip-Hop mehr zu bieten hat als das, was im deutschen Mainstream stattfindet, zeigt der türkische Rapper Ezhel. Der in Ankara geborene Musiker rappt über gesellschaftliche und politische Themen und weil er das in der autokratischen Türkei macht, hat ihm das auch schon eine Verhaftung eingebracht – angeblich wegen Drogenverherrlichung. Mittlerweile ist er wieder raus aus dem Knast und nutzt seine Freiheit am Samstag für einen Auftritt in der Tonhalle.
Junge Menschen würden immer weniger lesen, das können diejenigen, die trotzdem noch ab und an eine Zeitung aufschlagen, häufig lesen. Doch beim Lesefestival Stadtlesen habe ich in den letzten Jahren viele meiner Altersgenossen in den Sitzsäcken getroffen. Das dürfte auch am Sonntag auf dem Odeonsplatz wieder so sein. Und auch wenn es dieses Jahr weniger junge Leute sein sollten – ich bin auf jeden Fall da.
Nach dem ruhigen Sonntag brauche ich am Montag wieder was auf die Ohren. Im Bahnwärter Thiel ist wieder mal eines der Südbahnhof-Konzerte, mit dabei ist unter anderem Ronja Anders. Die Singer-Songwriterin aus München erzählt in ihren Texten von Freundschaft und Liebe, und ja: Auch sie hat dabei einen höheren Anspruch als ihre Musikerkollegen aus den Charts.
Am Dienstag zieht es mich ins Feierwerk. Bei der Veranstaltungsreihe Bass.Kafe gibt es einmal pro Woche Ska, Dub, Dancehall und weitere Musikrichtungen, heute steht Reggae im Sunny Red auf dem Programm und hoffentlich können mich die Good Vibes da drinnen ein wenig darüber hinwegtrösten, dass der Sommer vorbei ist.
Bei den ganzen deepen Texten der Vortage tut mir ein bisschen lockere Musik sicher ganz gut. Sean Koch kommt am Mittwoch ins Strom. Ich habe von dem Sänger bisher nur ein paar Aufnahmen gehört, aber es heißt, er würde seine Gigs zu Partys machen. Wie man das als Singer-Songwriter schaffen will, ist mir ein Rätsel – genau wegen dieser Neugierde besuche ich sein Konzert.
Ins Theater gehe ich eigentlich nicht gerne, zu viel Drama, zu wenig Action. Aber für die Vorstellung von „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ am Donnerstag im Metropoltheater mache ich eine Ausnahme. Der Roman von Joachim Mayerhofer hat mir dermaßen gut gefallen, dass er auf der Bühne einfach funktionieren muss. Außerdem gefällt mir die Location in Freimann: klein, rund – und fast mehr Kneipe als Theater.
Die Woche ist rum und in den Charts hat sich voraussichtlich wenig geändert. Capital Bra wird ziemlich sicher weiter auf der Eins stehen, mit welchem Lied auch immer, er produziert ja im Akkord. Mir persönlich hat diese Woche im Münchner Kulturleben aber viel gebracht. Und mir einmal mehr gezeigt, dass Musik so viel mehr kann als „Sei dir sicher ich bleib eiskalt//alle machen Auge auf meinen Lifestyle“. Auch das geistert gerade durch die Charts. Und um dieses Gefühl mit ins Wochenende zu nehmen, gehe ich am Freitag zu Seth Troxler ins Blitz – und vermeide einen Blick in die Spotify-Listen.