Tradition und anderer Quatsch

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Traditionen sind dazu da, um gemeinsam Dinge tun zu können, bei denen man sich so ganz alleine ziemlich dämlich vorkäme. Die Frage bleibt: Warum wurde der Erste, der einst mit einer Tradition begann, nicht so lauthals ausgelacht, dass sich keiner traute ihm gleich zu tun?

Traditionen sind dazu da, um gemeinsam Dinge tun zu können, bei denen man sich so ganz allein ziemlich dämlich vorkäme. In dem Studentenviertel, in dem Max sein Auslandssemester verbracht hat, öffnet man dienstags um zehn die Fenster und schreit hinaus in die Nacht. Für denjenigen, der den ersten Schreit tut, fühlt sich das immer ein wenig seltsam an. Sobald das Gekreische wie ein Echo von allen Seiten widerhallt, setzt ein befreiendes, ja beinahe archaisches Gefühl ein. Nach seiner Rückkehr in die Münchner Studentenstadt muss Max diese Tradition hier unbedingt einführen, finde ich. Denn Schreien als fröhliche Massenveranstaltung sollte nicht nur Menschen vorbehalten sein, für die es Anlass zu höchster Aufregung ist, wenn Männer in kurzen Hosen auf dem Rasen hin- und herdackeln. Leider ist es ein schmaler Grat zwischen dem Begründer einer Tradition und einem armen Irren, der aus dem Fenster schreit.

Dabei kann man sich bei vielen Traditionen fragen, warum der Erste, der einst damit begann, nicht so lauthals ausgelacht wurde, dass sich keiner traute, in seine Fußstapfen zu treten. Bayerische Bräuche sind für mich eine schier unerschöpfliche Quelle der Verwunderung: Es ist noch nicht lange her, dass ich in der Hallertau Männer in Lederhosen beobachte, die auf Biertischen rhythmisch ihre Peitschen zum Klang von Akkordeonmusik schnalzen lassen, während der Dorfpfarrer dazu den Takt auf einem Amboss schlägt. Jetzt mal ehrlich: Wieso hat das Brauchtum über die Jahre so elaborierten Quatsch hervorgebracht, während nie jemand auf die simple Idee gekommen ist, bequemes Gemeinschaftsgekreische von zu Hause einzuführen?

Wenn Schreien einen festen Platz im Alltag hätte, wäre Vieles besser. Wer seine Stimmbänder für die Woche schon einmal abgenutzt hat, kann sich bei Massenveranstaltungen endlich wieder auf den Anlass konzentrieren – bei Konzerten auf die Musik, bei Fußball auf das Spiel und bei Demonstrationen auf die Sache.

Von Susanne Krause