Zufallsstudium: Graue, nette Männer

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Eigentlich dachte
unsere Autorin, dass sie in einer Gesundheitsökonomie-Vorlesung sitzt. Aber warum fängt die Vorlesung viel zu spät an? Und wieso kommen plötzlich Männer in
grauen Anzügen in den Vorlesungsraum?

„Sind Sie schon so weit?“, fragt die Professorin mit Stick in der
Hand in meine Reihe hinein. Schnell schaue ich weg, frage mich aber, was genau
diese Frau von mir möchte und wünsche mir einfach nur, dass die
Vorlesung jetzt dann anfängt.

Es ist mittlerweile schon halb drei und immer noch reden die
Studenten bunt durcheinander. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, als ich
zwanzig Minuten vorher durch das Treppenhaus der LMU lief und mich an die
Fersen einer jungen braunhaarigen Frau heftete. Tatsächlich gab es nicht
besonders viel Auswahl, da die Studentin der einzige Mensch in diesem
Treppenhaus zu sein schien, was mich verunsicherte – gibt es überhaupt
Vorlesungen, die um 2 Uhr anfangen? Als ich meine Überlegung der Frau gegenüber in
Worte fasste, erklärte sie mir, dass es die schon gäbe. Den Namen der Vorlesung, in die sie
gehen wollte, verstand ich tatsächlich auch nach zweiter Wiederholung nicht,
irgendwas mit Wirtschaft. Ein Stockwerk höher, meinte sie noch, sei eine
Vorlesung zu Gesundheitsökonomie. Und da das irgendwie ausgefallen und
interessant klang, beschloss ich, ein Stockwerk höher zu schauen.

Gesundheitsökonomie. Ich habe tatsächlich keinerlei
Vorstellungen, was man in diesem Fach bespricht, aber das, was auf dem Beamer
zu lesen ist, habe ich definitiv nicht erwartet. Da steht irgendetwas über
Vernetzung der unterschiedlichen Bereiche der SWM. Und langsam verstehe ich
auch, wieso sich der Vorlesungsbeginn so herauszögert. Offensichtlich sollten
die Studenten sich selbst Konzepte zu diesem Thema überlegen. Die Frau ganz vorne scheint die fertigen Powerpoint-Präsentationen dann auf den Stick zu
ziehen und vermutlich müssen die Studenten ihre Konzepte daraufhin vorstellen. Als
dann auch noch Männer mit Anzug in den Raum kommen, vermute ich, dass sie von
der SWM sind und sich die Konzepte anhören wollen. Meine Vermutungen
bewahrheiten sich nach weiteren fünf Minuten, in denen die Frau die letzten
Präsentationen einsammelt.

Nur verwirrt mich noch ein wenig, was das alles mit Gesundheitsökonomie zu tun haben soll.
Doch auch dieses Rätsel lüftet sich, als ich am Ende der Vorlesung meinen
Banknachbarn anspreche und erfrage, in was für einer Vorlesung ich eigentlich
sitze. „BWL“, erklärt der mir entgegen meiner Erwartung, und dass heute der Schwerpunkt Marketing ist und
sie im Moment praxisbezogene Vorlesungen haben, „nächste Woche ist dann
BMW dran“. Ziemlich cool und spannend, denke ich mir.

Und so sind auch die Vorträge der Studenten ziemlich
interessant: Das erste Konzept wird von den SWM-Menschen auch gleich mit dem
Satz: „So machen wir’s, danke für die Anregung“ sehr positiv angenommen. Die Gruppe will ein Punktekonto für alle Dienstleistungen der SWM, also MVG, Strom,
Bäder etc. einrichten, auf dem der Kunde bei Nutzung der Leistungen Punkte
sammeln und dafür Prämien oder die Möglichkeit zu spenden erhalten soll. Die Gruppe hat sogar schon einen Finanzplan und ein
sehr durchdachtes Werbekonzept entwickelt.

Vorschläge anderer
Gruppen werden dagegen kritischer aufgenommen, nicht jedes Konzept ist schon so
gut ausgearbeitet. Andere Ideen sind zum Beispiel Kombitickets für
MVG und Bädereintritt, SmartHome-Software, eine ganzheitliche Abrechnung aller
Leistungen am Ende des Monats oder eine SWM-Kundenkarte, über die man monatliche
Gesamtpakete buchen kann.

Am Ende fragt mich mein Banknachbar, ob ich jetzt gerne BWL
studieren möchte. Eine Zeitlang denke ich über diese Frage nach und komme
zu dem Schluss, dass BWL wohl tatsächlich auch ganz spannend und weniger
trocken sein könnte, als ich dachte.


Text: Mariam Chollet

Foto: Lukas Haas

Zufallsstudium: Vielleicht doch lieber was Naturwissenschaftliches?

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Trotz
Vor-Abitursprüfungs-„Ferien“ hat es unsere Zufallsstudentin geschafft, früh
morgens in einer chemischen Vorlesung zu sitzen, wo sie nicht nur komische
Blicke erntet, sondern auch interessante Eindrücke gewinnt.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie der Typ neben mir immer wieder auf das Blatt vor mir schielt. Groß steht ganz oben
„Zufallsstudium“ drauf und darunter ein paar kurze Notizen. Ich lächle ein bisschen
in mich hinein. Eigentlich nicht erstaunlich, dass er sich wundert. Ich finde
es ja sogar selbst verwunderlich, dass ich hier sitze. Dass ich mich
tatsächlich in meinen Vor-Abiprüfungs-„Ferien“ aufgerafft habe, um um 9 Uhr im großen
Buchner-Hörsaal von Großhadern zu sein. Ich bin an der medizinisch-chemischen Fakultät,
das weiß ich, aber in was für eine Vorlesung ich hier hinein geraten bin, weiß
ich noch nicht wirklich. Ich schiele zu meinem Nachbarn zurück und versuche
irgendwie den kleingedruckten Text in der unteren Ecke seines Skripts zu lesen,
wo vermutlich auch der Name dieser Veranstaltung steht. Aber keine Chance. Also
gebe ich bald auf und höre weiter zu. Es geht um Antibiotika. Der Professor
malt viele chemische Formeln an die Tafel, also tippe ich auf irgendwas in
Richtung Pharmazie.

Erstaunlicherweise finde ich mich ziemlich schnell in das
Thema ein und verfolge gespannt die Erklärungen des Professors, der mit
lebhafter Stimme und viel Gestik erklärt, wie man Antibiotika verändert, um sie
säurefest zu machen, also ein Keton in ein Acetal umwandeln. Oder was die Unterschiede zwischen fermentativ gewonnenen und synthetischen Antibiotika sind.
Gut, dass ich Chemie in der Oberstufe hatte, so dass ich mit den Begrifflichkeiten
gut klar komme, wirklich viel verstehe und es sogar ziemlich interessant finde.
Ich denke, dass der Typ von vorhin tatsächlich Recht hatte und mich gut beraten
hat.

Denn eigentlich hatte ich mich, als ich um 9 Uhr immer noch
planlos auf dem komischerweise fast leeren Campus stand, einem großen Kerl an
die Versen geheftet, der in einer Gruppe von mehreren Leuten auf ein kleines
Nebengebäude zu lief. Das kam mir eigentlich ganz gelegen, denn ich war fest
entschlossen, mich nicht einfach in einen der großen Hörsäle zu setzen, sondern
vielleicht eine kleinere, spannende Veranstaltung zu finden. Die Gruppe
Menschen verschwand dann durch eine Tür und als ich mit etwas Abstand hinterher
kam, standen alle vor einem kleinen Raum versammelt, sich in Kleingruppen
unterhaltend und offensichtlich auf den Professor wartend. Etwas ratlos stand
ich an der Seite, da überfiel mich plötzlich der Gedanke, dass es doch auch
geschlossene Veranstaltungen gibt an der Uni, mit Anwesenheitsliste und so.
Plötzlich verunsichert trat ich auf den großen Kerl zu, dem ich hierher gefolgt war: „Tschuldigung, kann ich mich in die Veranstaltung, auf die ihr wartet, auch
einfach so dazu setzen?“. Leicht amüsiert und irritiert meinte er, dass das eigentlich schon ginge. Schnell erklärte ich meine Situation, um das Gespräch etwas
weniger komisch zu machen, und der Typ erklärte mir sehr freundlich, dass sie
gerade auf ein total langweiliges Seminar warten und dass es aber gerade eine
sehr interessante Vorlesung in einem der Hörsaal gebe. Also nichts wie hin.

Nach einer sehr kurzen Zeit kündigt der Professor eine 15-Minuten-Pause an. Ich bin kurz irritiert, weil ich tatsächlich nicht mit einer
Pause gerechnet habe, und frage meinen Banknachbarn nochmal, ob das jetzt so stimmt, wie der das gesagt hat. Gratulation,
eine grandios dumme Frage in Anbetracht dessen, dass der Professor genau das vor drei Sekunden gesagt hat. Aber der Student ist sehr freundlich und ich
frage ihn auch noch, in was für einer Vorlesung ich hier eigentlich sitze und
gratuliere mir innerlich zu zweiten sehr dumm wirkenden Frage. „Medizinische
Chemie“, erfahre ich daraufhin, und, dass sie tatsächlich für
Pharmaziestudenten ist. Ich erkläre dann auch, was
es mit dem merkwürdigen Begriff „Zufallsstudium“ auf meinem Blatt auf sich hat
und wir unterhalten uns kurz nett über Zukunftspläne, wobei ich auch erfahre,
dass es eine Vorlesung für das fünfte bis achte Semester ist. Das macht mich schon ein
bisschen stolz, weil ich dafür echt erstaunlich viel verstehe.

Am Ende bin ich sogar so weit, dass ich anfange darüber
nachzudenken, entgegen meinen ursprünglichen Plänen nicht vielleicht doch
irgendetwas Naturwissenschaftliches zu studieren. So gehe ich, nach einer kurzen
netten Verabschiedung von meinem Banknachbarn, mit dem Gefühl, tatsächlich
etwas gelernt zu haben, aus dem Hörsaal.

Text: Mariam Chollet

Foto: Lukas Haas

Zeichen der Freundschaft: Zwei Wochen

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Ein Fremder ist nur ein Freund, den du noch nicht getroffen hast. Selten spüren wir das so intensiv wie auf Sommerfreizeiten. Genau dort hat unsere Autorin Aisha kennengelernt. Über die Entstehung einer besonderen Freundschaft.

Wir stehen am Bahnhof. Ich habe Aisha noch zu ihrem Gleis
gebracht, weil ihr Zug früher fährt als meiner. Jetzt warten wir. Sie erzählt,
dass ihr Bruder sie dann vom Bahnhof abholt. Und ich so: Du hast einen Bruder?
Hast du eigentlich noch andere Geschwister? Was machst du eigentlich so in
deiner Freizeit? Und dann fangen wir an, über Geschwister und Haustiere und
Hobbies zu reden. Dinge, über die man normalerweise im ersten
Smalltalk-Gespräch redet. Dinge, die wir alle noch nicht voneinander wussten.
Da standen wir nun also und führten kurz vorm Abschied unser erstes Gespräch
über die Realität, in die wir jetzt beide fahren würden.

 Zwei Wochen lang hatten wir uns da schon gekannt. Zwei
Wochen, die wir auf einer Sommerfreizeit zusammen mit 50 anderen Jugendlichen
aus der ganzen Welt verbrachten.

 Aisha begegnete ich gleich am Anfang: Beim ersten
Kennenlern-Spiel. Da war sie noch zurückhaltend und still. Und ich lernte nur,
dass sie aus Italien kam und ihr Lieblingsessen Pizza war. Dann stellte sich
raus, dass wir in nebeneinander liegenden Zimmern wohnten. Und beim ersten
Abendessen überlegten wir zusammen, wie wohl unsere noch nicht angekommenen
Zimmermitbewohnerinnen sein würden. So viel Zeit verbrachten wir ab da
miteinander und schnell war sie nicht mehr die zurückhaltende sondern die
aufgedrehte, fröhliche Aisha. Oft gingen wir zusammen in den Garten und ich
schaute ihr dabei zu, wie sie vergeblich versuchte in die Hängematte dort zu
klettern, die sehr wacklig über dem Bach angebracht war. Wir liefen zusammen
zum Supermarkt, ich übersetzte und half ihr die richtigen Sachen zu finden und
dann daraus Pizza zu backen. Wir saßen draußen in der Sonne und alberten herum.
Denn mit Aisha konnte man immer lachen. Wir gingen zusammen Second-Hand-Shoppen
und probierten viel zu große Männerjeansjacken an. Sie lackierte mir die Nägel,
schminkte mich. Sie tröstete mich, als ich traurig war: redete mit mir, umarmte
mich. Ich wartete nachts noch lange auf sie, als sie wegen einem kleinen Unfall
im Krankenhaus war und kümmerte mich dann um sie. Wir diskutierten, wir
redeten, wir lachten.

Wir waren wie in einem anderen Universum, in einer eigenen
Welt. Wir unterhielten uns nicht über die Realität außerhalb. Vielleicht weil
wir wussten, dass wir früh genug in sie zurück kehren mussten. Das ging wohl Allen
so und trotzdem war es mit den anderen anders. Mit ihnen hatte ich über ihr
Leben, über mein Leben geredet. Aber mit Aisha hatte ich so viel geredet, so
viel erlebt, so viel gelacht; unser Leben vor diesen zwei Wochen war unwichtig,
wir waren da. Über was davor war redeten wir erst beim Abschied. So viel habe
ich in diesen zwei Wochen gelernt. Vermutlich hätte ich davor noch nicht mal
gedacht, dass man in zwei Wochen, überhaupt Freundschaften schließen kann. Und
dann auch noch eine so besondere.

Text: Mariam Chollet

Foto: Yunus Hutterer

Alles ist möglich

Samuel Flach, 25, plant ein besonderes Projekt: Bei
„Gemeinwohlwohnen“ sollen Flüchtlinge, Menschen mit Behinderung und Studierende
zusammenleben

Samuel Flach liegt in seinem Bett. Er starrt die Decke an. Er schaut auf die Uhr. Eigentlich müsste sein Assistent schon längst da sein. Er fischt nach seinem Handy. Akku leer. Alleine aufstehen kann er nicht. Samuel ist querschnittsgelähmt. „So eine Situation ist scheiße, so richtig, richtig scheiße. Alltag ist das nicht, aber es kann passieren, zum Beispiel wenn mein Assistent in der U-Bahn feststeckt.“  
 

Samuel lebt in einer Wohngemeinschaft mit einer Mitbewohnerin, die ihm hilft und bei ihm angestellt ist. Eigentlich ein super Prinzip, aber wenn einer mal länger weg bleiben will oder seine Mitbewohnerin mal nicht da ist, ist es schwierig. Deswegen kam Samuel auf die Idee, dass es besser wäre, mit mehr Menschen zusammenzuwohnen. Als er dann auch noch zufällig auf Alejandro Hünich traf, der sich in einem Projekt engagiert, in dem Flüchtlinge und Studierende gemeinsam leben, entstand die Idee zu einem ganz besonderen Wohnprojekt: Gemeinwohlwohnen, ein Projekt, in dem Flüchtlinge, Menschen mit Behinderung und Studierende zusammenleben sollen. „Alle Mitbewohner und Mitbewohnerinnen, ob mit oder ohne Behinderung, könnten von dem Wohnkonzept profitieren und selbstbestimmter leben“, sagt Samuel. Von dieser Idee ist er überzeugt.
 

Samuel sitzt seit seinem 20. Geburtstag im Rollstuhl. Jetzt ist er 25. Damals hatte er ein Jahr Zivildienst in Uganda gemacht und fuhr zum Abschluss und zur Feier seines 20. Geburtstages nach Sansibar, einer kleinen Insel vor Tansania. Direkt nach der Ankunft rannte er über den Strand und machte einen Hechtsprung ins Meer. Dabei stieß er mit dem Kopf vermutlich gegen eine Sandbank. Ein Halswirbel zersplitterte.
 „Ich würde sagen, es war ziemlich knapp“, sagt Samuel. „Ich war ja bei Bewusstsein, aber ich kam halt nicht raus und hatte auch nicht mehr viel Luft.“ Aber Einheimische am Strand sahen ihn, zogen ihn sofort aus dem Wasser und holten Leute von der ansässigen Tauchschule. Mit Plastikflaschen wurde sein Kopf stabilisiert, damit nicht noch mehr kaputt gehen konnte. Er musste schleunigst operiert werden, so viel stand fest. Aber es gab keinen Hubschrauber auf der Insel. Letztendlich organisierte und bezahlte ein tansanischer Manager einen Safari-Hubschrauber, der Samuel nach Daressalam flog. Dort wurde er untersucht und weiter nach Nairobi gebracht, wo er operiert werden konnte. Nach zehn Tagen kam Samuel nach Deutschland in die Unfallklinik in Murnau, wo er ein halbes Jahr verbrachte.
 

Seine Stimme ist leiser geworden, während er über seinen Unfall redet. Aber genauso fest. „Ich habe das schon so oft erzählt“, sagt er. „Immer wieder fragen mich Leute mit mitleidigem Blick, was mir denn passiert sei. Die können sich einfach nicht vorstellen, dass der Rollstuhl für mich inzwischen Alltag ist.“ Er sitzt in seiner Küche am Tisch. Bunt kariertes Hemd, Haare zurückgebunden. „Klar war das ein Bruch in meinem Leben“, sagt er, überlegt kurz und widerspricht sich dann: „Nein: Mein Leben ist mein Leben.“
 Nach dem Aufenthalt in der Klinik in Murnau war er wiederholt in einer Reha in Pforzheim. Sie versprachen viel. Sogar, dass Querschnittsgelähmte wieder laufen könnten. Bei ihm passierte das nicht. Nach fast einem Jahr Reha beschloss er zu studieren: „Ich wollte nicht länger mein Leben damit verbringen, nach einem Ziel zu streben, dass ich vermutlich nie erreichen würde“, sagt er. „Es ist jetzt einfach so. Ich sitze im Rollstuhl. Mittlerweile ist das normal geworden.“

Er wohnt seit vier Jahren in München, hat gerade seinen Bachelor in Ethnologie gemacht. Jetzt hat er sich für einen Bachelorstudiengang Statistik angemeldet. Um ganz was anderes auszuprobieren, wie er sagt. Er engagiert sich viel, macht bei einem inklusiven Theaterprojekt an Mittelschulen mit und ist aktiv in dem Verein für Jugendaustausch, mit dem er selbst in Uganda war. Außerdem reist und schreibt er viel. Aber auch sein Projekt Gemeinwohlwohnen nimmt ziemlich viel Zeit in Anspruch. Allein zwei bis drei Tage pro Woche beschäftigt er sich ausschließlich mit dieser Idee.
 Seit Anfang 2016 arbeiten er und Alejandro an dem Konzept. Kernidee ist, dass Menschen mit Behinderung ihre Mitbewohner anstellen und mit ihrem Pflegegeld bezahlen. Dadurch haben Studierende und Flüchtlinge, die Arbeit suchen, die Möglichkeit, auf Minijob-Basis zu arbeiten. Außerdem können Flüchtlinge durch das Zusammenleben leichter Deutsch lernen – und durch eine Wohngemeinschaft werden die Mieten günstiger. Es ist ein Vorhaben, das für alle Vorteile schafft. Aber auch Bildungsarbeit soll es leisten und die dort gelebten Werte wie Toleranz und Inklusion sowie die Idee an sich an die Öffentlichkeit tragen. Daher hätten sie auch gerne einen Gemeinschaftsraum. Manchmal träumen sie sogar von einem Café.
 

Mittlerweile ist das Projekt gewachsen. Gemeinsam mit den Mitgliedern eines schon bestehenden Wohnprojekts haben Samuel und einige Freunde den Verein Zusammen-Leben gegründet. Dieser dient als Trägerorganisation. Jetzt suchen sie nach einer Wohnung, die groß genug für etwa acht Leute ist, halbwegs zentral liegt und dann gemeinsam barrierefrei umgebaut werden soll. Alle städtischen Ämter, mit denen Samuel gesprochen hat, seien begeistert von der Idee, sagte er, haben aber kein Haus zur Verfügung.
 Die Suche nach geeigneten Unterstützern ist nicht einfach: „Wir passen in keine Schublade“, sagt er. Die meisten Wohnprojekte mit Behinderten managen große Trägerorganisationen. Außerdem kommt die Hilfe meist von außen. Dass das Projekt autonom ist, ist Samuel sehr wichtig. Es geht nicht um Hilfe, sondern darum, selbstbestimmt und gleichberechtigt zusammenzuwohnen. Auch wenn das schwierig ist, wenn Geld und Wohnung fehlen.
 Probleme könnte es natürlich auch beim späteren Zusammenleben geben. „Aber es ist ein Projekt, das von den Problemen leben wird“, sagt Samuel, „man kann das nicht vorher planen. Es kann schiefgehen, aber es ist halt ein Prozess.“

Während Samuel erzählt, gestikuliert er viel. Seine Hände zeigen alles Mögliche in der Luft. Samuel kann begeistern.
Natürlich hat sich sein Leben verändert. Aber natürlich ist er immer noch derselbe Mensch, der dieselbe Begeisterung und dieselbe Organisationskraft ausstrahlt. Und auch seine Zukunftspläne haben sich nicht wirklich geändert. In Uganda hat er eine Liste mit Zukunftsideen angefangen. Und als er diese nach dem Unfall wieder durchgegangen ist, hat er gemerkt, dass er nichts streichen muss. „Das ,wie‘ verändert sich natürlich, aber es ist trotzdem möglich.“ So reist er trotzdem ständig durch die Gegend, denn „Reisen und Schreiben wird mich mein Leben lang begleiten“, sagt er. Also verbrachte er ein Semester in Kuba, machte eine Reise nach Indien und jetzt plant er schon seinen nächsten Trip. Zurück nach Uganda und Sansibar. Vor allem seine Freunde aus Uganda will er wiedersehen und sich sogar überlegen, dort vielleicht später mal eine Feldforschung zu machen. Auch in Sansibar will er an denselben Ort zurück. Will seine Retter von damals wiedertreffen. Will vielleicht sogar mit ihnen tauchen gehen. Denn das haben sie ihm damals versprochen: Es ist alles möglich, was sich ändert, ist nur das ‚wie‘.

Von: Mariam Chollet

Foto: Stephan Rumpf

Mein München: Maximilianstraße

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Felix Thust, 17, hat es geschafft, auf der noblen Maximilianstraße im Zentrum einen Ort zu finden, den nur Wenige kennen und Menschen mit vollen Einkaufstüten der Boutiquen bestimmt meiden. 

Direkt an der Maximiliansstraße. Mitten in dem Münchner Nobelviertel. Genau dort fand Felix Thust diese kaputte Rolltreppe. Dort, wo normalerweise alles perfekt zu sein scheint. Felix ist gerade mal 17 Jahre alt, fotografiert aber schon, seit er klein ist. Damals bekam er zu seinem achten Geburtstag seine erste Digitalkamera. Und fing gleich an, damit herumzuprobieren. Er knipste drauf los, drehte kurze Filme und schoss vor allem im Urlaub mit der Familie viele Fotos. Dann kaufte sich sein Vater eine Spiegelreflex-Kamera, mit der Felix bis heute fotografiert.

 Er hält einfach gerne Momente fest, aber zeichnen kann er nicht. Da war das Fotografieren dann genau richtig für ihn. So erklärt er sein Interesse an der Fotografie. Außerdem habe er ein gutes Gefühl für Perspektiven. Und das merkt man auch: Die besondere Perspektive des Fotos, mit dem Fokus auf dem spiegelnden Geländer der Rolltreppe, lässt den Hintergrund unscharf werden, sodass sich das Foto nach hinten immer mehr in der Dunkelheit verliert. 

Verloren gehen – das wollen er und seine Freunde auch ganz bewusst auf ihren Fototouren. Wenn die Zeit es hergibt, sind sie etwa alle zwei Wochen unterwegs. Denn wenn man die Orientierung verloren hat, findet man die besten Orte, glaubt zumindest Felix. Und offensichtlich stimmt das auch, denn eine kaputte Rolltreppe an der Maximiliansstraße zu finden, hätte vermutlich niemand erwartet. 

Von: Mariam Chollet

Zeichen der Freundschaft: Gedankendraht

Beste Freundinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sich aber trotzdem über alle Distanz hinweg verstehen.  Eine weitere Kolumne aus unserer Reihe “Zeichen der Freundschaft”.

Uns trennen fast 3000 Kilometer. Wir sehen uns nur einmal im Jahr. Und trotzdem sind wir immer noch befreundet. Seit mehr als zehn Jahren schon. Natürlich haben wir mal näher zusammen gewohnt. Nur zwei Jahre, aber in einer Zeit, in der zwei Jahre einem noch wie ein ganzes Jahrhundert vorkamen. In der schon zwei Wochen reichten, um allerbeste Freunde zu werden.

Als Balqis und ich uns kennenlernten, waren wir beide fünf. Wir lebten in Kairo, zwei Häuser voneinander entfernt, gingen auf dieselbe Schule, unsere Mütter waren beide deutsch und kannten sich von der Arbeit. Freunde werden war also vorprogrammiert. Aber dass diese Freundschaft so lange halten würde, hätte vermutlich niemand gedacht.

Wir sind nämlich ziemlich unterschiedlich. „Als wir in eure Wohnung kamen, da hab ich dich erst gar nicht gesehen, weil du dich hinter deiner Mama versteckt hast“. Meine Freundin lacht auf dem Laptopbildschirm vor mir. Wir skypen fast jede Woche und erzählen uns gegenseitig von unserem Leben. Und manchmal eben auch von früher. Ich lache auch. Ja, daran erinnere ich mich auch noch dunkel. Ich, das verschüchterte, ängstliche, etwas pummelige Mädchen, mit der hellen Haut, blonden Haaren und blauen Augen. In Deutschland geboren, zwei deutsche Eltern. Sie, offen und zierlich, mit dunklem Teint, braunen Augen, dunklen Haaren und superinternationaler Herkunft: deutsche Mutter, palästinensischer Vater und in Marokko geboren. Aber die unterschiedlichen Kulturen und das Aussehen haben nie eine Rolle gespielt: Früher nicht, denn wenn man klein ist, ist sowieso jedes kleine Mädchen nur ein möglicher Spielgefährte. Aber auch heute nicht.

Ziemlich unterschiedlich sind wir aber schon. Manche würden vielleicht sogar sagen gegensätzlich. Und trotzdem führt scheinbar ein Gedankendraht über all die Kilometer und all die Unterschiede. Von Jordanien bis Deutschland. Denn vor zwei Jahren erzählte ich Balqis von einer ziemlich coolen internationalen Schule, bei der ich mich vielleicht bewerben wollte. Und sie kannte die Schule auch und wollte sich auch bewerben. Letztens erzählte sie mir, dass sie Vegetarierin werden würde. Ich sagte, dass ich darüber auch schon nachgedacht hatte, und wir fingen gleichzeitig an.

Jedes Jahr im Sommer kommt Balqis zu Besuch. Jedes Jahr freue ich mich unglaublich. Und jedes Jahr ist es, trotz jedes Gedankendrahts, trotz jedes Skype-Telefonats, im ersten Moment komisch. Da steht immer eine etwas andere Person vor mir, als die, die ich kenne. Da ist Schüchternheit im Raum und die Frage, wie man sich denn jetzt – nach einem Jahr Nicht-wirklich-Sehen – am besten verhält. Sich umarmen zur Begrüßung?

Wir sind jeder auf unsere Art erwachsener und anders geworden. Und jedes Jahr in dieser kurzen Sekunde des Nicht-Erkennens oder des Anders-Erkennens habe ich kurz Angst, dass wir uns zu sehr verändert haben könnten. Dass wir zu unterschiedlich geworden sein könnten. Aber diese Angst verflüchtigt sich sofort wieder nach dem ersten Wort. Und ich weiß doch wieder, was ich tun und worüber ich reden soll und es ist doch wieder dieselbe beste Freundin, die ich kenne. Jedes Jahr aufs Neue.

Von: Mariam Chollet

Planlos in der Konjunkturtheorie

Bevor ich mir noch so richtig überlegen kann, ob
ich das jetzt gut finde, in einer Wirtschaftsvorlesung zu sitzen,
fängt der Dozent schon zu reden an. Ich verstehe ziemlich wenig. Eine neue Folge unseres Zufallsstudiums.

Von Mariam Chollet

An der Wand erscheint eine Powerpoint-Präsentation: „Einführung in die Konjunkturtheorie“ unter
dem Überbegriff Makroökonomik. Was tue ich hier? Warum bin ich an der Uni und nicht in der Schule? Und warum um Himmels Willen Makroökonomik?

Rückblick. 50 Minuten zuvor. Ich laufe auf das große Uni-Gebäude zu. Es ist ein
schöner Tag draußen, zu schön eigentlich, um sich rein zu setzen, denke ich. Vorsichtig
drücke ich die Tür auf. Drinnen staune
ich über die hohe Halle, die mich empfängt. Natürlich war ich hier schon, so
mit der Schule. Aber heute ist es anders, heute bin ich keine Schülerin in
einer Gruppe von Schülern, nein, heute bin ich Zufallsstudentin.

Zögerlich gehe ich die Treppe hoch, etwas unsicher, wohin ich
jetzt überhaupt gehen soll. Zehn nach drei. Ich meine mal gehört zu haben, dass
Vorlesungen immer erst um Viertel nach anfangen. Aber hier sind keine Menschen
zu sehen. Etwas ratlos laufe ich ein paar Mal Treppen rauf und wieder runter, um
die große Halle herum, immer auf der Suche nach einer Person, der ich folgen
könnte. Und finde niemanden. Schließlich schaue ich auf den Raumplan neben
einem Vorlesungssaal. Für 16 Uhr steht da die nächste Veranstaltung. Ich schaue
auf die Uhr: 15.20 Uhr.

Nach ein wenig weiterem ziellos Rumstehen und Rumlaufen und
Nicht-wissen-wohin, frage ich dann doch drei Studenten, die auf der Treppe sitzen
und lernen, was los ist. Sie schauen mich verwirrt an. Schnell erkläre ich,
wieso ich hier bin und dass ich noch gar nicht studiere und daher keine Ahnung
habe und so. Ich werde etwas rot. So dass sie mir dann doch erklären, dass es
hier immer nur blockweise alle zwei Stunden anfängt. Sie schauen mich immer noch sehr irritiert
an. Und ich kann es auch verstehen: Vermutlich läuft nicht alle Tage mal eine
Schülerin in der Uni rum und will sich gerne in irgendeine willkürlich
ausgewählte Vorlesung setzen. Zugegeben, das klingt schon ein bisschen komisch.

Die nächste Dreiviertelstunde schlage ich mit Essen und der
vergeblichen Suche nach einem Schreibwarenladen tot. Aus irgendeinem Grund habe
ich das Talent, immer das, was ich gerade suche, nicht zu finden.

Dann wieder das Hauptgebäude. Zum dritten Mal vorbei am
selben Unterschriften sammelnden Studenten. Diesmal ist es kurz nach vier. Das
Gebäude ist tatsächlich deutlich voller. Ich schlendere die mir nun schon fast
bekannten Gänge entlang und halte Ausschau nach interessanten Personen, denen
ich folgen könnte. Nach einer Weile, in der ich verschiedene Personen gemustert
habe und für irgendwie nicht spannend genug befunden habe, bekomme ich
plötzlich leichte Panik. Schnell hänge ich mich an die nächstbeste
Person: eine junge Studentin, die jetzt nicht grade wahnsinnig spannend,
sondern eher durchschnittlich, aber doch ganz sympathisch aussieht. Wir laufen
auf eine offene Tür am Ende eines Ganges zu und ich schaue in lauter
Studentengesichter, weil die Tür direkt vorne ist, wo der Dozent steht. Ich
bettle inständig, dass sie nicht da rein geht. Ich habe grade sehr wenig Lust, als
immerhin bestimmt vier Jahre jüngere Schülerin direkt an starrende Augen von
Studenten vorbeizulaufen. Viel lieber hätte ich mich von hinten unauffällig
in einen Raum geschlichen. Aber natürlich läuft die Studentin zielgenau in
diesen Saal hinein und ich wohl oder über hinterher.

Nach doch noch einigem Warten kommt dann endlich ein Dozent
rein. Kurze Zeit später erscheint die Powerpoint-Präsentation an der Wand und
ich lese den Titel der Vorlesung: „Einführung in die Konjunkturtheorie“ unter
dem Überbegriff Makroökonomik. Bevor ich mir noch so richtig überlegen kann, ob
ich das jetzt gut finde, in einer Wirtschaftsvorlesung zu sitzen oder nicht,
fängt der Dozent schon zu reden an.

Und dann verstehe ich ziemlich wenig. Es geht um Fiskalpolitik
und intertemporale Optimierung und das kosianische Modell und er könnte für
mich genauso gut Spanisch reden. Aber irgendwann kommen wir dann kurz auf das
Thema Brexit, durch den ein Konjunkturschock eingetreten sei, weil sich
schlagartig alles verändert habe. Ich wache aus meinem Ich-verstehe-eh-nichts-Halbschlaf
auf. Offensichtlich scheint es auch einigen anderen im Raum so zu gehen, denn
plötzlich verstummt das ganze vorher herrschende Gemurmel. „Hmm, was sagt ein
Ökonom zu Brexit? Schwierige Frage“, philosophiert derweil der Dozent. Als er
die Frage stellt, wer glaubt, dass es besser wird durch Brexit, meldet sich
niemand. Geschickt übergeleitet sind wir dann plötzlich wieder bei Trends und
wie man die ausrechnet und ich frage mich, wofür so ein Trend denn überhaupt gut
ist und es wird mir auch nicht mehr klar. Dann folgen haufenweise Diagramme und
Formeln mit Logarithmen und tausenden Variablen, bei denen sich mir nicht
erschließt, wofür sie stehen. Zwei Dinge verstehe ich immerhin: zum einen sein
Verständnis von Ökonomen, die versuchen „einen Bus zu lenken, indem sie hinten
aus dem Fenster schauen“, da Prognosen rückblickend betrachtet immer falsch
sind und immer manipuliert werden müssen, um mit ihnen arbeiten zu können. Und
dass sich Haushalte und Unternehmen immer möglichst optimal für sich selbst
verhalten, also so, dass sie möglichst viel Geld verdienen und dass ein
Konjunkturschock daher also Konsum und Produktion schlagartig verändert, da es
möglicherweise nur an einem Tag viel billiger ist. Damit schließt sich zumindest
für mich wieder ein bisschen der Kreis zu „Little Britain“. Aber irgendwie ist
mir das echt alles zu theoretisch, weil was genau mir das jetzt bringt, wenn
ich die Auswirkungen von Technologieschocks vorhersehen kann, wenn ich doch das
Verhalten der Haushalte und Unternehmen eh nicht verändern kann, das erschließt
sich mir nicht.