Franca Tebcharani / Foto: Florian Peljak

Sie sucht ihn

Franca, 22, pflegt Brieffreundschaften mit Häftlingen. Dafür gibt es eine eigene Internetseite mit Kategorien. Für die Jura-Studentin ist das ein Ehrenamt. Und soll die Frage klären, ob sie ein Job im Justizvollzug reizen könnte.

Von Ornella Cosenza

Rechts oben notiert Franca das Datum: 5. März 2020. Blaue Handschrift auf kariertem Blockpapier. Wenn Franca Tebcharani, 22, Briefe schreibt, nimmt sie sich bewusst Zeit dafür. Macht es sich gemütlich. Überlegt, was sie schreiben möchte. Zwei bis drei Stunden braucht sie manchmal für einen mehrere Seiten langen Brief an ihre Brieffreunde. Ben und Viktor (Namen geändert) heißen sie. Die 22-Jährige Münchnerin schreibt aber nicht etwa Briefe, weil sie in Zeiten des Corona-Virus einen neuen Weg sucht, um mit Menschen ansteckungsfrei in Kontakt zu treten. Nein, Francas Brieffreunde sind im Gefängnis, weil sie eine Straftat begangen haben.

Briefe an Häftlinge? Warum? Diese Fragen bekommt sie oft gestellt. „Als ich meinen Eltern davon erzählt habe, waren sie zu Beginn schon schockiert“, sagt Franca. Die junge Frau hat blonde Haare, geschwungenen schwarzen Lidstrich und trägt an diesem Tag pinke Ohrringe in Blitzform. „Kannst du denn nicht Geflüchteten helfen?“, soll ihre Mutter gesagt haben, denn die Briefe gehen direkt an Francas Privatadresse. Das bedeutet, dass die Insassen wissen, wo genau die junge Frau wohnt. Das stört Franca nicht. „Ich habe mir bewusst kein Postfach dafür eingerichtet. Irgendwie ist da so eine Vertrauensbasis“, sagt Franca. Man wisse schließlich auch nicht, wer neben einem in der U-Bahn sitzt. „Es bewegen sich nun mal Straftäter in der Gesellschaft. Weil man sie vielleicht noch nicht aufspüren konnte, oder aus anderen Gründen. Jeder kann straffällig werden. Man weiß nie, was in den Menschen vorgeht. Und jeder, der entlassen wird, kann auch erneut straffällig werden“, sagt Franca.

Seit ungefähr einem halben Jahr schreibt Franca Briefe mit Ben und Viktor. Ben war drogensüchtig. Und um an weitere Drogen zu kommen, beging er schließlich eine Straftat. Viktor hat eine andere Geschichte: er sitzt wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Gefängnis. Beide sind noch keine 30 Jahre alt.

Über seine Vorgeschichte schreibt Ben mehr als Viktor, der ein Menschenleben auf dem Gewissen hat. „Ich frage da nie direkt nach. Auch, wenn es mich schon interessiert. Wenn mir einer der Brieffreunde mehr über seine Geschichte und die Tat erzählen möchte, ist das okay, und ich freue mich über die Offenheit“, sagt Franca – zu nahe möchte sie ihnen trotzdem nicht treten. Sie respektiert das.

In ihren Briefwechseln unterhält sich Franca mit den Jungs über Serien wie „4 Blocks“ oder „Sherlock Holmes“. Darüber, wie lecker Döner sind, über Tattoos und über Wünsche und Träume für die Zukunft. Manchmal schickt sie selbstgemalte Aquarelle mit. Zu ihrem Geburtstag bekommt sie von Viktor eine Karte mit einer Rose. Er hat sie aus einem Taschentuch gefaltet. Wenn man die Briefe so liest und nicht weiß, wer hier schreibt, könnte man vermuten, es sind einfach Menschen Mitte 20, die eine harmlose Brieffreundschaft pflegen. Harmlos sind die Geschichten von Ben und Viktor aber überhaupt nicht.

Die Kontakte zu den jungen Männern hat Franca über eine Webseite mit dem Namen jail-mail.net erhalten. „Kontakte von Drinnen nach Draußen“, heißt es da. Auf dieser Seite können Häftlinge aus Deutschland, die eine Brieffreundschaft suchen, ein Gesuch inserieren. Er sucht ihn. Er sucht sie und ihn. Er sucht sie. Sie sucht ihn. Dazu ein Bild des Insassen und eine kurze Beschreibung. Geschrieben von den Häftlingen selbst. Die Webseite vermittelt die Kontakte. Man kann sich durch die Gesuche der Häftlinge durchscrollen. Komisch wirkt das schon. Ein bisschen wie Tinder für Häftlinge. Mit Frauen würde Franca gerne auch mal schreiben. Allerdings gibt es mehr inhaftierte Männer als Frauen –es ist leichter Kontakte zu Männern zu bekommen. Die Gesuche von inhaftierten Frauen werden nicht öffentlich auf der Webseite gezeigt. Die Insassinnen seien überflutet worden von Anfragen, heißt es dort.

Dass Frauen Kontakt mit Gefängnisinsassen suchen, kommt übrigens nicht selten vor. Manchmal kommt es dabei sogar zu Eheschließungen im Gefängnis. Das ist ein bekanntes Phänomen: Frauen, die sich in Verbrecher verlieben. Frauen, die fasziniert von „Bad Boys“ sind. Das weiß Franca.

„Diese Geschichten kenne ich. Ich suche weder eine romantische Beziehung, noch eine richtig tiefe Freundschaft. Später will ich im Justizvollzug arbeiten. Oder sogar als Gefängnisleitung. Das ist einer der Gründe, weshalb ich diese Briefe schreibe. Es ist für mich eine Art Herantasten an das, was mich dort vielleicht erwarten wird“, sagt sie. Zurzeit absolviert sie ein duales Studium: Öffentliches Recht. Danach will sie an der Uni Jura studieren. Viele Häftlinge würden eine Person suchen, mit der sie einfach sprechen können – gleichzeitig ist das Briefeschreiben eine willkommene Beschäftigung im sonst eintönigen Vollzugsalltag. „Ich glaube, es ist tut den Insassen gut, wenn da jemand von Draußen ist, der ihnen ein offenes Ohr schenkt. Der ihnen schreibt, und der sie nicht ablehnt. Das ist vielleicht auch für die Resozialisierung dieser Menschen wichtig“, sagt Franca und fügt hinzu: „Dennoch rechtfertigt nichts die Taten, die begangen wurden.“ Der Studentin ist bewusst, dass sie keinen Sozialarbeiter durch das Schreiben von Briefen ersetzen kann.

Ein Briefwechsel mit Insassen kann unter Umständen aber doch unheimlich werden, das gibt Franca zu. Das Risiko geht sie trotzdem ein. Einmal hat sie ein Häftling, mit dem sie geschrieben hatte, nach seiner Freilassung direkt auf Facebook kontaktiert. „Das fand ich schon extrem merkwürdig. Ich habe darauf nicht reagiert. Das ging mir zu weit in mein privates Umfeld“, sagt Franca.

Fünfundvierzig Briefe hat Franca bisher bekommen. Ein ganzer Stapel ist das, der vor ihr liegt. Jeder Brief, der aus dem Gefängnis raus geht und reinkommt, wird vorher geöffnet und von den dortigen Mitarbeitern gegengelesen. Ob sie trotzdem Angst habe, dass einer der Häftlinge irgendwann vor ihrer Tür stehen könnte? „Nein, ich habe keine Angst davor. Ich überlege mir aber schon sehr gut, was ich schreibe. In den Briefen habe ich von mir erzählt und von Anfang an klar gemacht, dass ich das als Ehrenamt und auch als Vorbereitung auf meinen zukünftigen beruflichen Werdegang sehe“, sagt Franca.

Kommt es zur Freilassung der Häftlinge, endet dann auch der Briefwechsel. Treffen kommen nicht in Frage. Eine Art Brieffreundschaft mit klar definiertem Ablaufdatum.


Während diese Geschichte entstanden ist, hat sich München jeden Tag mehr bis hin zur Ausgangsbeschränkung verändert. Das Interview fand noch in einem Café statt. Unsere Autorin Ornella schreibt seit einer Woche auch Briefe. An Freunde. Sie liebt Handschriften. Auf echte Umarmungen freut sie sich aber jetzt schon.