Akademie-Studentin Sophie Lindner malt oft Gesichter mit Augen, aus denen sich Strahlen ins Bild brennen. Das lässt an Heiligenbilder denken
Eine menschliche Figur wandelt in einer weißen Jacke durch eine Welt, die in schwarze und rote Nebelschwaden gehüllt ist. Fast löst sie sich in ihnen auf. Sie kommt auf den Betrachter zu, die rechte Hand ruht auf der linken Brust; gerade weiße Linien gehen von den Augen aus, kreuzen sich und treffen auf ein Herz im Vordergrund. Das Werk heißt „Zwangsjacke“. Die Linien, „die Strahlen“, wie die Malerin Sophie Lindner, 23, sie nennt, sind ein sich in den Arbeiten der Künstlerin wiederholendes Motiv. „Das ist heilende Strahlung“, sagt sie.
Sophie studiert an der Akademie der Bildenden Künste. Sie hat eine Tackerpistole mitgebracht und legt sie vor sich auf den Tisch, schaut sie an, während sie kurz nachdenkt. Durch die Strahlung, die die Figuren auf ihren Gemälden und digitalen Foto-Collagen aussenden, wolle sie Betrachtende von Missständen befreien, die durch die kapitalistische Gesellschaft entstünden, sagt sie. „Werte, wie geistige Gesundheit und Zufriedenheit, müssen wieder zugeführt werden. Die kapitalistische Welt macht die Menschen krank. Sie müssen geheilt werden“, sagt Sophie: „Ich glaube, dass das, was die Menschen sehen, immer zu einem Teil von ihnen wird. Die heilende Strahlung von meinen Bildern kann also auf die Betrachter übergehen.“
Heilung durch Strahlen, die von Gemälden ausgehen? Das lässt an Heiligenbilder, Andacht und Religion denken. „Ja“, sagt Sophie, „manchmal muss man den alten Meistern ein bisschen was klauen.“ Sie schmunzelt. Eine Strähne ihrer kurzen blonden Haare fällt ihr in die Stirn, als sie ihren Kopf etwas zur Seite neigt. Mit der heilenden Strahlung bezieht sie sich auf Darstellungen von himmlischen Strahlen als Linien in Heiligenbildern und biblischen Szenen. „Das erste Mal habe ich das auf einer Klassenfahrt vor zwei Jahren bei einer Mariendarstellung in einer Kirche in Gent gesehen“, sagt Sophie. Sie erzählt, wie sie nach oben blickte und die Linien sah, die aus den Augen der Gottesmutter nach unten, in Richtung des Betrachters strahlten. Sie habe aber schon davor mit diesem Bildmotiv gearbeitet, betont Sophie. Das Motiv der heilenden Strahlung in ihren Bildern, sieht Sophie zwar historisch mit diesen Gemälden verbunden, doch wie sie es in ihrer Malerei verwendet, sei es von Christentum, Religion und Kirche separat.
„Aktuell bin ich zwar gläubig – ich gehe sogar seit vergangenem Jahr jede Woche in den Gottesdienst – doch mit der Strahlung in meinen Bildern hat das für mich nichts zu tun“, sagt Sophie. Die Strahlen, sagt sie, seien schon vorher dagewesen und werden auch bleiben.
Besonders deutlich sind die Strahlen in ihren digitalen Foto-Collagen zu sehen. Anders als in ihren Malereien, bei denen die Figuren von Personen aus ihrem Umfeld inspiriert sind, dient diesen Collagen eine digitale Fotografie als Grundlage, auf der die Künstlerin meist selbst zu sehen ist. Auch in der Arbeit „Ihealyouall“ ist Sophie zu sehen. Es ist ein Schwarz-Weiß-Foto, sie ist frontal der Kamera zugewandt, ihr Gesichtsausdruck ist neutral. Es wirkt wie ein Passbild – nur ist es auf den Kopf gedreht. Weiße Strahlen gehen von ihren Augen aus, um sich vor einem schwarzen Grund im unteren Bereich des Bildes in viele kurze Strahlen zu teilen. Auf der Höhe ihrer Stirn ist ein weißer Schriftzug zu lesen: „Ihealyouall“ – ich heile euch alle.
„Diese reproduzierbaren Arbeiten sind weniger energiegeladen als meine Malereien oder auch zum Beispiel Bilder in Kirchen“, sagt Sophie. Sie meint, dass alle Gegenstände beseelt sind und mit Energie geladen. Sie sagt, das habe sie durch die Arbeit mit Vielschichtigkeit in der Malerei gelernt. „Ich habe gemerkt, dass alle Wahrnehmung Illusion ist“, erzählt sie und klopft auf den Tisch vor sich. „Dieser Tisch könnte auf einer anderen Ebene auch gasförmig sein, hätte aber die selbe Energie.“ Ihre Malereien wirken unheimlich und rätselhaft, sie rufen ein beklemmendes Gefühl beim Betrachter hervor. Sie malt Bilder, auf denen die meist allein stehenden Figuren an manchen Stellen deutlich hervortreten, an anderen sich aufzulösen und mit dem Hintergrund, einer fremdartigen Welt, zu verschmelzen scheinen. Diese Bilder zeigen für sie die eigentliche Realität.
Sophie nimmt die Tackerpistole in die Hand. Schaut sie kurz nachdenklich an, legt sie wieder ab. Sie wird damit gleich noch einen Keilrahmen mit Leinenstoff bespannen. Es ist mit 2,30 auf drei Metern die größte Leinwand, die sie bisher bemalt hat. Dimensionen spielen für die Künstlerin eine wichtige Rolle. „Die Malereien müssen eigentlich immer größer werden. Zu groß geht gar nicht“, sagt Sophie, „sie müssen so groß sein, um den Betrachter einnehmen zu können – damit die heilende Strahlung auch ankommen kann.“
Tabitha Nagy