Rüstige WG

Vom Projekt „Wohnen für Hilfe“ profitieren Alte wie Junge. Die eine Seite bekommt Hilfe im Haushalt, die andere eine Bleibe. Das wichtigste dabei aber: Einsamkeit bleibt aus.

„Manchmal, da unterhalten wir uns noch bis nach Mitternacht in der Küche“, sagt Helga Poschenrieder. „Wir“, damit meint sie ihren Mitbewohner Lu Miao und sich. Dass zwischen den beiden ein Altersunterschied von 50 Jahren liegt, stört niemanden. Sie bezeichnen sich gern auch als „eingespieltes Team“: Lu hilft bei der Gartenarbeit und Helga Poschenrieder zeigt ihm auch mal, wie man Hemden richtig bügelt.
Helga Poschenrieder, 82, und Lu Miao, 31, wohnen nun schon seit 2014 in einer Art Wohngemeinschaft zusammen. „Wohnen für Hilfe“, so heißt das Projekt, das den damaligen Studenten und die Seniorin zusammengebracht hat. Das Projekt gibt es in München seit 1996; es kam durch die Kooperation des Seniorentreffs Neuhausen und dem Studentenwerk zustande und bringt junge Menschen, die Wohnraum suchen, mit Senioren zusammen, die Wohnraum bieten können. Studenten können so kostengünstig in München wohnen: Es fallen nur die Nebenkosten an, eine richtige „Miete“ gibt es nicht. Als Gegenleistung helfen die Studenten den Senioren bei der Bewältigung des Alltags. Von Wohnpaar zu Wohnpaar kann das unterschiedlich sein und die Begleitung zu Arztbesuchen miteinschließen, oder die Hilfe bei bestimmten Tätigkeiten im Haushalt.
Das Haus von Helga Poschenrieder in Garching hat viele Zimmer und einen Garten. Lus Zimmer ist 15 Quadratmeter groß und er hat ein eigenes Bad. „Als mein Ehemann starb, wollte ich nicht alleine in diesem Haus bleiben. Außerdem benötigte ich auch Hilfe bei schwereren Arbeiten, die vorher mein Mann übernommen hat“, sagt Helga Poschenrieder. Deshalb habe sie sich damals dazu entschieden, einen jungen Menschen bei sich aufzunehmen. „Die absolute Voraussetzung war aber auch, dass der potenzielle neue Bewohner mit Hunden zurechtkommt“, sagt die 82-Jährige. Sie ist Besitzerin eines belgischen Schäferhundes. Als Lu von der Arbeit nach Hause kommt, will Harun, der Hund, nur eines: mit Lu kuscheln. Den ganzen Abend weicht er nicht von seiner Seite.

Lu Miao kam als Promotionsstudent im Fach Maschinenbau von China nach München an die TU. Zuerst konnte er in einem Studentenwohnheim leben – allerdings nur für ein Jahr. „Danach musste ich etwas anderes finden“, sagt er. Mehr oder weniger zufällig ist er auf „Wohnen für Hilfe“ aufmerksam geworden: „In meinem Deutschkurs haben wir einen Text über das Projekt gelesen und ich fand die Idee dahinter schön.“ Im ersten Schritt müssen Studenten, also Wohnraumnehmer, eine Art Fragebogen ausfüllen und für ein kurzes Gespräch beim Seniorentreff zu einer Sprechstunde vorbeikommen. „Die Senioren, die Wohnraumgeber, melden sich bei uns und schildern uns ihre Situation. Sie bekommen ein Beratungsgespräch. Und jemand aus unserem Team schaut sich dann bei einem Hausbesuch den Wohnraum an“, sagt Christian Tippelt vom Team des Seniorentreffs Neuhausen. Anhand der Angaben, die Wohnraumgeber und Wohnraumnehmer gemacht haben, wird geschaut, welche Paare am besten zusammen passen. „Wenn jemand eine Katzenhaarallergie hat, macht es wenig Sinn, diese Person an einen Haushalt zu vermitteln, in dem es eine Katze gibt“, sagt Tippelt.
Hat sich ein Wohnpaar gefunden, kommt der Hauptfaktor ins Spiel: die Regelung, welche Hilfen geleistet werden sollen. Eine Grenze gibt es jedoch: „Alles, was unter den Bereich Pflege fällt, ist ausgeschlossen. Denn die Wohnraumsuchenden sind keine ausgebildeten Pflegekräfte“, sagt Tippelt.
„Wohnen für Hilfe“ hat aktuell einen relativ großen Andrang – vor allem bei Studenten. „Einige hundert Studenten melden sich bei uns pro Jahr. Auf einen Wohnplatz bewerben sich pro Sprechstunde mehrere Personen“, sagt Tippelt. Trotzdem will der Seniorentreff mehr Geld in die Öffentlichkeitsarbeit investieren, um insbesondere mehr Senioren auf das Projekt aufmerksam machen zu können. Außerdem bestehe Austauschbedarf bei den Wohnpaaren. Stammtische sollen stattfinden, dafür fallen Raummieten an. Und ein weiteres Ziel hat sich das Projekt gesetzt: „Es soll Schulungen geben für Wohnraumnehmer. Erste Hilfe, beispielsweise. Aber auch Vorträge zum Thema Umgang mit Demenz oder anderen Krankheiten,“ sagt Tippelt. Das alles kann nur durch finanzielle Unterstützung umgesetzt werden.
An diesem Tag hat Helga Poschenrieder noch Besuch von ihrer Enkelin Katja, die an einem großen Holztisch an ihrer Bachelorarbeit schreibt. In den Pausen verziert sie Plätzchen. „Ich finde es gut, dass hier noch jemand ist. Gerade als mein Opa verstarb, war es gut, dass meine Oma nicht alleine im Haus bleibt. Außerdem finde ich, dass Jung und Alt durch dieses Projekt auch Vorurteile abbauen und Neues lernen können“, sagt sie. Lu stimmt ihr zu: „Ältere Menschen sind nicht langweilig, manchmal haben sie sogar mehr Zeit, sich mit einem zu beschäftigen“, sagt er. Im Studentenwohnheim habe er seine Nachbarn meistens nur kurz gesehen. Da gefällt ihm seine jetzige Wohnsituation schon besser. „Es ist sehr menschlich hier.“
Eine reine Zweck-WG ist das auf keinen Fall. Lus Freunde sind immer im Haus von Helga Poschenrieder willkommen, manchmal kocht er chinesisch. Und Helga Poschenrieder zeigt ihm im Gegenzug, wie man bäckt. Käsekuchen zum Beispiel. Und auch interkulturell lernen sie von einander: Nämlich, dass Sauerkraut nicht nur in Deutschland gegessen wird, sondern auch in der Region in China, aus der Lu stammt.
Am nächsten Tag muss Lu Miao zum Flughafen. Helga Poschenrieder wird ihn natürlich begleiten. Ornella Cosenza

Fotocredit: Florian Peljak