Am Ostbahnhof treffen sich jeden Nachmittag Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen – sie lernen gemeinsam, danach bekommen sie Training.
München – Tee- und Kaffeegeruch. Ein Marmorkuchen mit Schneeflocken-Streuseln steht in der Mitte des Tischs. Schulhefte, Stifte und buntes Papier liegen verstreut. Thomas (alle Namen von der Redaktion geändert) schaut konzentriert in sein rotes Stark-Buch – er lernt für seinen Hauptschulabschluss. Dennis macht Mathehausaufgaben, und Hamid schreibt noch seinen Wunschzettel fertig. Mit blauem Kugelschreiber hat der 14-Jährige auf rosafarbenes Papier geschrieben. Einen Weihnachtsbaum hat er auch gemalt. Den Zettel bekommt Michaela Schubert. „Super, danke Hamid. Deine Schrift ist echt schön“, sagt sie. Hamid schreibt, dass er sich eine Trainingshose zu Weihnachten wünscht. Jetzt muss er gleich los und umarmt Michaela Schubert zum Abschied.
„Jedes Jahr schenken wir den Kids etwas zu Weihnachten“, sagt Schubert, die Gründerin des Projekts „Boxt Euch Durch München“ für Kinder und Jugendliche mit Fluchthintergrund und solche, die aus schwierigen Verhältnissen kommen und unter der Armutsgrenze leben. Die Geschenke sowie das gesamte Projekt werden ausschließlich durch Spenden finanziert. Die Jugendlichen bekommen Unterstützung bei Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen, aber auch Hilfe, wenn es darum geht, Bewerbungen für Lehrstellen zu schreiben.
Und sie bekommen Boxtraining – nach dem Lernen. Das Projekt ist ein Mix aus Mittags- und Hausaufgabenbetreuung, das mit Boxen und, wenn das Geld reicht, mit anderen Freizeitaktivitäten ergänzt wird. An diesem Tag sitzen die Ehrenamtlichen und Jugendlichen in dem Raum, der gleichzeitig Küche und Hausaufgabenraum ist, mit dicken Pullis und Winterjacken da – es ist Ende November, draußen hat es knapp über null Grad und in der Kulti-Kids-Halle am Ostbahnhof, wo das Projekt gerade seine Räumlichkeiten hat, ist es eisig kalt. „Wir wünschen uns neue Räume. Im Winter ist es hier viel zu kalt, und während der Sommerferien wurden unsere Laptops gestohlen“, sagt Schubert. Jetzt hat sie ihren eigenen Laptop zur Verfügung gestellt. Um neue anschaffen zu können, fehlt das Geld. Gerade für Referatsvorbereitungen oder für Bewerbungen werden Laptops dringend benötigt.
Während Schubert mit einer Tasse in der Hand immer wieder allen beim Lernen über die Schulter schaut, sagt sie: „Vergangenes Jahr lebten in München ungefähr 20 000 Kinder und Jugendliche unter der Armutsgrenze. Mittlerweile sind es fast 30 000.“ Diese Jugendlichen brauchen Unterstützung und einen Ort, an dem sie sich aufgehoben fühlen. Das warme Mittagessen wird von der Tafel zur Verfügung gestellt. Aktuell werden 15 Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 20 Jahren betreut: 14 Jungs und ein Mädchen. Jeden Tag. Bis 18 Uhr, und manchmal auch länger. Manche kommen über das Sozialamt, andere werden von ihren Lehrern in der Schule auf das Angebot aufmerksam gemacht und mittlerweile bringen die Jugendlichen auch selbst Freunde und Mitschüler mit. Manche wohnen in Allach, also am anderen Ende der Stadt, und kommen trotzdem mehrere Nachmittage in der Woche zu Michaela und ihrem Team.
„Mischmisch, kann ich dich was fragen?“, sagt Hamid und schaut Michaela Schubert an. Misch-Misch bedeutet Aprikose auf Arabisch und ein paar der Jungs nennen Michaela Schubert so, „weil uns ihr Vorname so an das arabische Wort erinnert“. Sie hat immer ein offenes Ohr. Selbst, wenn alle auf sie einreden, bleibt sie entspannt. Sie wird oft umarmt, wie eine Mutter.
Eine Stunde später, ein Stockwerk tiefer: linker Haken, rechter Haken, Roundhouse-Kick. Ausweichen, zuschlagen. „Okay, und jetzt eine kurze Pause“, ruft
Leah. Die 21-Jährige hat die Zeit gestoppt, während Dennis und Hakan sich einen Kickbox-Kampf geliefert haben. Der Zwölfjährige Dennis lässt sich mit dem Rücken auf die graue Bodenmatte fallen. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. „Habibi, komm her!“, ruft Hakan. Pause vorbei. Weiter geht es.
Die Idee zur Verknüpfung des Kampfsports mit einer Nachmittagsbetreuung kam Schubert, während sie in einem Jugend- und Kinderheim arbeitete. Dort wurde sie von den Jugendlichen oft gefragt, ob sie zum Boxen in die Turnhalle gehen dürfen. „Die Kinder mussten einfach irgendwo ihre Aggressionen abbauen. Meine Tochter Leah boxt selbst. Deshalb haben wir entschieden, dass dies ein Bestandteil unseres Projekts sein soll“, sagt Schubert. Beim Boxen haben „die Kids“ zusätzlich die Möglichkeit, sich richtig auszupowern und den Kopf frei zu kriegen. Leah gibt Trainingseinheiten für die Jugendlichen. Aber nur, wenn vorher alle Hausaufgaben erledigt sind. Das Konzept von Boxen und Bildung geht auf: Die meisten der Jugendlichen, die hier her kommen, schaffen einen Schulabschluss, bleiben motiviert und finden eine Lehrstelle. Der Mietvertrag von „Boxt euch durch München“ in der KultiKids Halle läuft allerdings Ende 2019 aus. Sie wissen noch nicht, wo sie dann unterkommen, denn die Mieten sind zu hoch. Die Jugendlichen fragen sich: „Wo sollen wir dann hin?“
Ornella Cosenza
Fotocredit: Jan A. Staiger