(c) Liv Christin Hoffmann

„Man muss nur hinschauen“

Baustellenromantik, gibt es das? Liv Christin Hoffmann, 21, dokumentiert die Baustelle am Sendlinger Tor – und fängt die kreativen und künstlerischen Ecken des Orts ein.

Von Ornella Cosenza

Menschen drängen sich auf den Rolltreppen aneinander vorbei. Liv Christin Hoffmann, 21, muss von einer U-Bahn-Linie in die nächste umsteigen. Alle haben es eilig am Sendlinger Tor, der U-Bahnhaltestelle, die gerade eine Langzeitbaustelle ist. Lange verweilen will hier unten niemand. Nur Liv bleibt stehen. Sie zückt ihr Smartphone. Sie hat etwas entdeckt. Mit ihrem Handy macht sie ein Foto von einem bräunlichen Rohr, das vor einer aufgerissenen Wand herausragt. Sie steigt in die U-Bahn ein. Später wird sie das Foto auf ihrem Instagram-Account „Sendlinger.Tor“ hochladen, ein Fitnessstudio auf dem Rohr verlinken und als Bildunterschrift einen Bizeps-Emoji posten. Die Form des Rohres gleicht der Form eines Oberarmes mit angespannten Muskeln.

Dieses Konzept setzt sie auf allen Fotos von „Sendlinger.tor“ um. Mal sieht man wieder eine hässlich aufgerissene Wand mit einem Fleck – der Fleck sieht aus wie ein Gespenst. Bilderunterschrift dazu: Gespenstemoji. Verlinkung: Die Drei Fragezeichen. Ein anderes Mal ist sind es Wasserflecken auf dem schwarzen Boden, die einem gelangweilten Gesichtsausdruck gleichen. „Sendlinger.tor“ hat aktuell 555 Follower, pro Foto 50 bis 90 Likes.

Das ist nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass Instagram zwischen Herzchen, Hashtags und Influencern immer mehr zu einem Ort der aufgehübschten Inszenierung geworden ist, der wenig mit Realität zu tun hat. Wer dort den Hashtag „München“ eingibt, findet zum größten Teil auf Hochglanz polierte Fotos von Models in Dirndln und bayerischer Katalog-Idylle – und natürlich jede Menge Aufnahmen vom aktuellen Bierfest.

Es geht aber auch anders: User wie Liv machen die kurioseren Winkel der Stadt sichtbar. Warum also ausgerechnet die Baustelle der U-Bahnstation am Sendlinger Tor? Was ist daran so faszinierend? „Ich steige oft dort um und war, als ich zum Studieren vor einem Jahr nach München kam, geschockt von den Zuständen dieser lieblosen Baustelle. In meinen Augen passte das nicht zum restlichen Münchner Stadtbild“, sagt Liv. Oben hui, unten pfui – und das, was da unten ist, wollte Liv fortan während ihrer Wartezeit dokumentieren.

Sie fing also an, sich den Ort genauer anzuschauen. „Man könnte die Fotos auch als eine Art Pareidolie oder Sinnestäuschung beschreiben“, sagt sie. Pareidolie beschreibt das Phänomen, in Dingen oder Mustern vermeintliche Gesichter oder andere vertraute Lebewesen zu erkennen. Mittlerweile ist „Sendlinger.tor“ für Liv mehr als nur eine Beschäftigung während der Umsteigezeit. „Es ist ein Versuch, im Alltag ein bisschen mehr hinzuschauen und einen anderen Blickwinkel einzunehmen“, sagt die Medizinstudentin.

Man kann sagen, dass sich Liv nun mit der U-Bahn-Station gut angefreundet hat. Immer wieder entdeckt sie Neues für den Account. „Über die Zeit habe ich festgestellt, dass das Sendlinger „Tor zur Hölle“, wie die Station umgangssprachlich von Münchnern genannt wird, nicht nur hässlich ist. Sie hat eine ganz eigene Baustellenkultur und ziemlich viele kreative und künstlerische Ecken und Kanten“, sagt sie. Man müsse eben nur hinschauen.