Laue Abende, düstere Tage

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Paris ist die Stadt der Möglichkeiten. Dort ist es möglich, eine herrschaftliche Wohnung an der Bastille nachgeworfen zu bekommen. Es ist aber auch möglich, sich als illegaler Untermieter die kalten Morgenstunden in den engen Gassen um die Ohren zu schlagen. Paris bietet eben relativ viele Möglichkeiten.

Wann immer der Münchner Wohnungsmarkt einen in den Wahnsinn treibt, lohnt sich ein Blick nach Paris. Et voilá: Alles ist relativ – das zeigen zwei Geschichten, vollkommen unabhängig voneinander. Meine Freundin Saskia hat jemanden gefunden, der ihr eine herrschaftliche Wohnung an der Bastille zum Freundschaftspreis vermietet. Marcel wiederum ist ein Mensch wie du und ich: Er besichtigt ein halbes Jahr lang unverschämt teure Wandschränke in schlechter Lage. Trotzdem bleibt er sein gesamtes Auslandssemester obdachlos. Zum Schlafen schlüpft er bei seiner Freundin unter, die glücklicherweise ein Zimmer ergattert hat.

Paris bei Nacht? Ist für Marcel kaum drin. Umso besser kennt er Paris am frühen Morgen: Jeden Tag muss er sich um sieben Uhr aus dem Gebäude schleichen, damit die Concièrge keinen Wind vom illegalen Untermieter bekommt. Die beiden können nicht riskieren, ihr einziges Dach über dem Kopf zu verlieren. Erst abends darf Marcel zurückkommen. Die Tage verbringt er in einer anderen Stadt als der aus Saskias Erzählungen. Saskia lebte in einer Metropole mit lauen Abenden und Wein auf dem Balkon. Marcels Paris, das sind düstere Morgen in zugigen Straßen. Tout est relatif.

Während Marcel erzählt, warte ich auf den Punkt, an dem er das Projekt Paris hinter sich lässt und zurück nach Hause kommt. Zurück an einen Ort, wo er sich auch tagsüber auf Polstermöbeln niederlassen kann. Heim, um sich Pflaster auf seine blutigen Knie zu kleben und warmen Kakao zu trinken. Dabei weiß ich bereits, dass er durchgehalten hat bis Semesterende. Marcel ist ein Phänomen auf seine Art. Er bleibt, auch nachdem er mit knapp 42 Grad Fieber gezwungen ist, ein Bett zu hüten, in dem er illegal ist und seine Freundin in Verlegenheit darüber gerät, zu welcher Adresse sie den Krankenwagen bestellen soll. Zurück in der Heimat haben Marcel und seine Freundin eine Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon bezogen; man kann sich kaum vorstellen, wie groß und großartig diese Wohnung in ihren Augen ist. Saskia hingegen wohnt wieder in ihrem WG-Zimmer seit sie zurück ist. Auf das Freundschaftsangebot für einen Altbau im Lehel wartet sie noch.

Von Susanne Krause