Tobias wohnt in einer inklusiven WG
Die inklusive WG geht über zwei Stockwerke und gehört zum Verein „Gemeinsam Leben Lernen“

Inklusives Wohnen mit Katze

Schlafen und pflegen: die Neuner-WG von Tobias Polsfuß, 26

Von Max Fluder

Sie haben das wohl Wichtigste vergessen: den Zucker. Gesa Romm, 24, und Tobias Polsfuß, 26, haben vor einiger Zeit einen Marmorkuchen für einen Pausenverkauf an Gesas Schule gebacken und dabei vergessen, den Zucker unter die Teigmasse zu heben. Am Ende kneteten sie ihn ein. Bisschen umständlich vielleicht, aber vermutlich ist es den beiden Mitbewohnern deshalb in Erinnerung geblieben. Zumindest kommen die beiden nach kurzem Überlegen auf diese Situation zu sprechen, wenn man sie fragt, was ihnen während ihrer gemeinsamen Zeit in einer inklusiven WG im Stadtteil Am Hart alles Außergewöhnliches schon passiert ist.

Gesa und Tobias sitzen an einem Montagabend im Wohnzimmer ihrer WG und erzählen aus ihrem Alltag. Es ist eine recht große Wohnung. Sie geht über zwei Stockwerke und gehört zum Verein „Gemeinsam Leben Lernen“, der im Raum München viele inklusive WGs betreibt. Beim Hausbau wurde extra darauf geachtet, die Wohnung für eine integrative WG zu gestalten. Nicht immer ist das möglich: „Vereine, die gerade ihre erste WG gründen wollen und bei den Wohnungsbaugesellschaften anfragen, werden abgewiesen. Wahrscheinlich, weil sie nicht die gleiche Etablierung aufweisen können“, sagt Tobias. In ihrer WG leben sie zu neunt, zu zehnt sogar, wenn man Martha mitzählt, die Katze.

Gesa ist vor sechs Jahren in die Wohnung im Münchner Norden eingezogen, sie ist damit die Jüngste der vier Mitbewohner mit geistiger Beeinträchtigung. Die ältesten leben dort schon seit 14 Jahren, seit der WG-Gründung. Der Umzug war ein Schritt in die Unabhängigkeit für Gesa. Sie arbeitet vier Tage die Woche an der Freien Bühne München. „Mir macht es sehr viel Spaß im Theater“, sagt sie. Dort spielt sie Improvisation, schreibt, macht Sprachtraining und tanzt. Zu Hause tanzt sie auch ab und zu, vor allem auf Partys. Am liebsten steht sie dann auf der Wendeltreppe in den ersten Stock.

Um die vier Mitbewohner mit geistiger Beeinträchtigung kümmern sich die fünf anderen Mitbewohner. Sie helfen beim Zähneputzen oder beim Anziehen, manchmal auch beim Waschen, je nachdem, ob die Hilfe im konkreten Fall benötigt wird. Vor allem sind sie aber Ansprechpartner und Freunde. Die fünf arbeiten in Schichten, jeder übernimmt üblicherweise jede Woche eine Morgenschicht. Wer am Abend Schicht hat, kocht auch für alle. „Manchmal sitzen wir dann auch hier noch zusammen und trinken ein Bierchen“, sagt Tobias.

Für sein Studium ist er nach München gezogen, zuerst wohnte er zur Zwischenmiete. Als er sich dann nach einer neuen Wohngelegenheit umschaute, wurde er auf die integrativen WG aufmerksam gemacht und bewarb sich. Mit Erfolg: Tobias lebt nun schon seit sechseinhalb Jahren dort. „Wenn ich an mein Zuhause denke, dann denke ich an die WG“, sagt der 26-Jährige. Tobias musste ein Casting machen und unter anderem einen Probe-Dienst für die WG-Mitglieder übernehmen. Auch Gesa ging durch eine Testzeit: „Ich habe zur Probe übernachtet, ein paar Leute kennengelernt und dann haben sie gesagt: ‚Okay, wir nehmen dich“, sagt sie.

Vor drei Jahren gründete Tobias wohnsinn.org, eine Website, auf der sich integrative WGs miteinander vernetzen können, sich unterstützen und mit ihren Erfahrungen, anderen bei der Gründung von neuen WGs helfen können. Der Bedarf ist groß: Teilweise seien in München bis zu 80 Bewerber mit Beeinträchtigung auf den Wartelisten der Wohngemeinschaften. Vergangenes Jahr wurde aus Wohnsinn ein eigenständiger Verein. „Wir wollen uns zusammentun, um die große Nachfrage zu decken, und um zu schauen, dass das Wissen von den erfolgreichen Projekten zu denen kommt, die so etwas nachmachen wollen“, sagt Tobias. Denn nicht jeder bekomme einfach so Wohnraum gestellt. Die Angebote des Vereins sind aufwendig – und auch kostspielig. Um Informationen und Hilfe für Neugründungen zum Beispiel per Flyer bereitzustellen, wird Geld benötigt. Auch Räume für Workshops sowie andere Treffen müssen extra angemietet und sich um die Organisation gekümmert werden. Dieses Jahr hat der Verein beispielsweise zu den Wohnsinn-Zukunftstagen nach München eingeladen, einem Treffen von WG-Mitbewohnern, Angehörigen, Wissenschaftlern aus ganz Deutschland. Ein Gros der Organisation leistet Tobias dabei noch vom Home-Office aus.

Urlaub machen die WG-Mitglieder natürlich auch, manchmal alleine, und einmal im Jahr verreisen sie alle zusammen. Bei jeder gemeinsamen Reise dabei: eine WG-Playlist. Es soll auf der Fahrt ja nicht langweilig werden. Mit dabei sind Schlager, Pop-Songs und was den einzelnen WG-Mitgliedern noch alles so gefällt. Gesa hört beispielswiese am liebsten Hip-Hop. 2019 fuhren sie nach Italien, schauten sich verschiedene Städte an, entspannten. „Bis fünf Uhr in der Nacht haben wir das letzte Mal noch am Pool gehockt, Spaß gehabt,“ sagt Tobias. Getrunken haben sie auch. Wie in den wohl meisten anderen Münchner WGs.