Selina Frohnauer und Monika Himmler
Projekt *Wohnen für Hilfe*

„Ich vergesse oft, dass ich um so viel älter bin“

Selina studiert Buchwissenschaften im ersten Semester. Die Wohnungsnot in München ist für sie kein Problem. Sie lebt in Alt-Bogenhausen in einem zweistöckigen Haus. Bei einer 79-Jährigen. Beim Projekt „Wohnen für Hilfe“ leben Studenten bei Senioren

Von Max Fluder

Es ist der Computer, es ist das Laub im Garten, oder es sind die Blumen, die Einkäufe. Es sind diese Dinge, die Monika Himmler schwerfallen können. Die 79-Jährige lebt in einem ockergelben zweistöckigen Haus in Alt-Bogenhausen unweit des Böhmerwaldplatzes. Ob es nun 1938 oder 1937 gebaut wurde? So genau kann die ganz in schwarz gekleidete Frau mit dem mittellangen weißen Haar das nicht sagen. Was sie aber sagen kann: dass das Haus ziemlich groß ist. Und mit der alten Technik und dem Garten manchmal ziemlich schwer zu pflegen. Monika Himmler lebt aber nicht alleine. Oben, direkt unter dem Dach, wohnt Selina Frohnauer, 24, Buchwissenschaftsstudentin im ersten Semester. Selina hilft Himmler im Alltag und bekommt dafür Wohnraum gestellt. Ein geräumiges Schlafzimmer mit Dachschräge und einem Fenster in Richtung Süden, Küche, Bad.

Die beiden Frauen trennen 55 Jahre, und trotzdem leben sie seit September zusammen. Gut, wie beide sagen. Das Zimmer wurde Selina über „Wohnen für Hilfe“ vermittelt, einem Programm des Seniorentreffs Neuhausen. Ältere Menschen können dort ein Zimmer oder – wie im Fall von Selina – gleich eine ganze Einliegerwohnung anbieten. Studierende, aber auch Auszubildende oder junge Berufstätige, können sich dann beim Seniorentreff bewerben und für Mitarbeit im Haushalt umsonst oder vergünstigt wohnen.

Selina hat sich schon eingerichtet. In ihrem Zimmer hängt eine Lichterkette von der Decke, ihre Bücher stehen in den Regalen und auf dem Schreibtisch liegen Uni-Unterlagen. Bisher half sie viel im Garten, hat Laub mit einem Rechen zusammengezogen oder Blumen winterfest gemacht. Eigentlich wäre sie zur Zwetschgenzeit dagewesen. „Die Zwetschgen haben aber die Eichhörnchen oder die Würmer gegessen. Sie sind süß, also die Eichhörnchen“, sagt sie, als kenne sie die Tiere schon lange.

Beim Seniorentreff Neuhausen kümmern sich drei Mitarbeiter um die Wohnraumvermittlung. Christian Tippelt ist unter anderem für die Vergabe in der Stadt München zuständig, er sitzt in einem Büro des Seniorentreffs in einem Hinterhof nahe des Rotkreuzplatzes. Tippelt – grün-blau-kariertes Hemd, dunkle Haare, Dreitagebart – nimmt eine Karte des Großraums München von der Wand. Seit 1996 vermittelt der Seniorentreff Studierende in der Stadt, seit 2013 auch im Landkreis München. So können auch Studenten der TU in Garching Wohnraum in der Nähe der Universität finden. „Es ist schon so, dass mehr Angebote in der Stadt vorhanden sind“, sagt Tippelt. Im Landkreis München müsse das Angebot erst bekannt werden, zudem müsse man die Gemeinden einzeln bewerben.

Knapp unter 100 Wohnpaare gibt es momentan. „Die Zahl schwankt immer ein bisschen“, sagt Tippelt, aber er ist sich sicher, dass sie kommendes Jahr die 100 erreichen werden. Es gebe immer mehr junge Menschen, die Wohnraum suchen, als Senioren, die Wohnraum anbieten. Zwei bis drei hat er üblicherweise bei den Sprechstunden, die zum Aufnahmeverfahren gehören und jeweils mittwochs und freitags stattfinden. Vor Semesterbeginn, besonders im August und September, können das schon mehr als zehn pro Sprechstunde sein.

Bevor die Paare zugeteilt werden, müssen sowohl die Senioren als auch die jungen Menschen einen Fragebogen ausfüllen und Angaben zu ihrer Person machen. Ein wichtiger Punkt sind die Aufgaben, die von den Wohnraumsuchenden übernommen werden. Reparaturen am Haus oder Auto können das sein, Kochen, im Garten helfen, Einkäufe erledigen. Die Senioren zu Arztbesuchen begleiten. Oder auch nur Gesellschaft am Abend leisten. Aber: Was wichtig ist, dass die Pflege der Senioren ausgeschlossen ist. „Die jungen Leute sind keine ausgebildeten Pflegekräfte“, sagt Tippelt.

Wenn es nach Tippelt gehe, würden noch viel mehr Wohnpaare zustande kommen. Die Senioren profitieren von der Hilfe im Alltag, die jungen Menschen von dem Wohnraum. Bald findet ein durch Spenden finanzierter Workshop statt. Es soll um psychologische Veränderungen im Alter gehen, besonders Demenz. Wenn der Workshop gut angenommen wird, soll es in Zukunft weitere geben, sofern das Geld für externe Referenten da ist. Tippelt würde auch gerne mehr für die Öffentlichkeitsarbeit ausgeben, um noch mehr Senioren zu erreichen, doch das Budget ist knapp. Was schwebt ihm vor? Werbung natürlich, professionelle Fotos und Texte, mit denen sich Flyer und Hefte gestalten ließen. Bis jetzt laufe viel noch über Mundpropaganda.

Wie ist Monika Himmler, bei der Selina untergekommen ist, auf „Wohnen für Hilfe“ gekommen? Nach dem Tod ihres Mannes musste sie sich alleine um das Haus kümmern. „Fürchterlich“ sei das gewesen. Ihre Tochter stieß schließlich auf Wohnen für Hilfe, eine Lösung zu dem Problem. 2016 zog die erste Wohnpartnerin ein, Himmler hält immer noch den Kontakt. Selina ist jetzt die dritte.

In Himmlers Wohnzimmer sitzt das Wohnpaar an einem alten Holztisch und redet über Wohnen für Hilfe. Selina trägt einen bunten Pullover, beinahe das Gegenteil von Himmlers schwarzen Oberteil. Im Alltag aber harmonieren die beiden. Himmler ist jung geblieben, mit 50 ging sie an die Uni und studierte Kunstpädagogik, promovierte danach. Sie hat gerne mit jungen Leuten zu tun. „Ich vergesse oft, dass ich um so viel älter bin“, sagt sie, und: „Probleme habe ich eher mit Gleichaltrigen.“ Sie muss ein bisschen schmunzeln. Ihr sei der Dialog mit der jüngeren Generation wichtig, sagt sie dann. Sie findet es angenehm, zu wissen, dass Selina im Haus ist. Dass man mal läuten kann. Dass man sie bitten kann, mal kurz beim Tragen zu helfen. Beim Abschied ruft sie Selina hinterher, sie solle sich doch kurz melden. Nicht wie eine Vermieterin, sondern wie eine gute Bekannte.

Foto: Alessandra Schellnegger

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