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Ausstellen, bis der Bagger kommt

Wenn leere Schaukästen zum Leben erweckt werden. Junge Kunst an einem Abbruchhaus: die ille Galerie.

Von Tabitha Nagy

Die fünf Schaukästen an der Barerstraße 77 sind leer – fast leer. In einem der Kästen befindet sich noch eine lebensgroße Puppe. Es ist eine Arbeit der Künstlerin Tabata von der Locht, ihr Kunstwerk und die Arbeiten von vier weiteren Kunstschaffenden wurden hier zuletzt ausgestellt. In diesen Schaukästen an dem Haus mit der gelben Fassade und den dunklen Fenstern befindet sich die ille Galerie.

Seit Dezember wird hier Kunst ausgestellt. Verschiedenste Medien waren schon zu sehen: Performance, Lichtinstallation, Fotografie, Video, Skulptur und mehr. Mal quollen leuchtende bunte Fäden aus der Wand und aus dem Kasten heraus. Zu einer anderen Ausstellung war eine Fotografie zu sehen, auf der eine Person in einer grün bestickten Jeans vor einem Kaktus steht. Sie ließ an Sommer denken, an Urlaub. Seit die Corona-Pandemie Deutschland erreicht hat, stehen die Schaukästen leer. „Wir wollen nicht, dass Menschen eventuell extra rausgehen, um sich die Kunst anzusehen. Das können wir in der aktuellen Situation nicht verantworten“, sagt eine der Organisatoren. Zur Zeit finden die Ausstellungen daher, vom heimischen Sofa aus erreichbar, im virtuellen Raum statt. Sie sind über die Website der ille Galerie zu finden – https://illegalerie.glitch.me. Außerdem kann dort ein Portfolio mit Fotos von vergangenen Ausstellungen heruntergeladen werden.

Ille Galerie, der Name kommt von dem Wort illegal. Im Dezember vergangenen Jahres hat eine kleine Gruppe Kunststudierender von der nah gelegenen Akademie der Bildenden Künste München die Schaukästen aufgebrochen und sich als Ausstellungsort angeeignet, deshalb wollen sie auch lieber anonym bleiben. „Als wir uns das Haus das erste Mal angeschaut haben, wollten wir noch die Verantwortlichen kontaktieren, eine Telefonnummer steht ja auf dem Banner an dem Gebäude“, sagt einer der Studenten aus der Gruppe. Er hat kurze braune Haare, einen Bart und sitzt seitwärts im Stuhl, einen Arm hat er über die Rückenlehne gelegt. „Legat Living“, dieser Name steht auf dem Banner. Die Firma ist für gehobenen Wohnbau bekannt. An der Barer Straße 77 sollen, so steht es auf dem Banner und der Website der Firma, die „Barer Höfe“ entstehen.

„Mit diesen Leuten wollen wir nicht zusammenarbeiten“, sagt eine der Kunststudierenden. Deshalb rückten sie ein paar Tage später mit einem Bolzenschneider an, knackten die Schlösser der Schaukästen und wechselten sie mit eigenen aus. „Die Kästen waren ganz schön heruntergekommen. Wir haben sie gereinigt, Sticker und Schmierereien entfernt und haben sogar zwei kaputte Scheiben ausgewechselt.“ Auch um die Beleuchtung haben sie sich gekümmert. Strom gibt es durch wieder aufladbare Batterien und Powerbanks. Eine Woche nach der Aneignung fand schon die erste Ausstellung statt. Seitdem stellten sie – etwa alle drei Wochen wechselnd – jeweils fünf junge Künstler aus.

Das Budget für das Projekt ist gering, es kommt aus einem „Bierautomatenstipendium“. Hierbei handelt es sich um eine studentische Initiative in der Akademie: Studierende können sich um ein Stipendium in Höhe der Einnahmen des Bierautomaten bewerben. „Wir haben auch ganz viel gefunden, eine Leiter haben wir zum Beispiel im Müll entdeckt. Die Suppe, die es bei jeder Eröffnung gibt, wird aus Foodsharing-Lebensmitteln gekocht.“ Als die Studentin davon erzählt, blickt sie nachdenklich nach oben, lächelt. Eine Strähne ihrer blonden Haare fällt ihr ins Gesicht, sie streicht sie wieder hinter ihr Ohr. Mit der Suppe halten sie ihre Besucher warm. Den Strom für die Wärmeplatte stellt der benachbarte Blumenladen zur Verfügung. „Die Nachbarn sind total begeistert, dass hier etwas passiert, das Gebäude steht ja schon seit Jahren leer.“

Die Studierenden selbst verdienen an dem Projekt nichts. Sie wollen mehr Ausstellungsflächen schaffen. „Die jungen Künstler wollen ausstellen, aber in München gibt es nur wenige Möglichkeiten für sie“, sagen sie. Jeder Raum, der dann mit Kunst bespielt werden kann, sei daher wertvoll – auch so kleine Flächen wie leer stehende Schaufensterkästen. „Es geht uns auch darum, uns und auch die anderen jungen Kunstschaffenden untereinander zu vernetzen.“ Für die Ausstellungen schlagen sie sich gegenseitig immer Leute vor, die sie noch nicht so gut kennen, aber gerne kennenlernen wollen, erzählen sie. Neben der Kunst seien so auch schon zwei Wohnungen vermittelt worden, ein Pärchen habe sich gefunden und eine Auftragsarbeit wurde an eine der Künstlerinnen vergeben.

„Man kommt hier mit unglaublich vielen Menschen in Kontakt. Das sind viel mehr und ganz andere Leute als in so einem White Cube einer Galerie“, sagt eine der Studierenden. Gestört habe die ille Galerie bisher noch niemanden – bis auf die kurzen Blockaden bei Vernissagen, wenn die Gehsteige voll waren.

Doch wie sieht es rechtlich aus? Sind die Kunstschaffenden, die in den Schaukästen ausgestellt werden, belangbar? „Nein, das haben wir mit einem Anwalt abgeklärt“, sagt einer der Gruppe. „Wenn, dann müssen nur wir uns für das Aufbrechen der Kästen verantworten, aber selbst dann könnten wir Geld für die Aufwertung des Gebäudes verlangen. Wahrscheinlich passiert also gar nichts.“

Derzeit ist in der ille Galerie nichts los. „Wir eröffnen die nächste Ausstellung“, sagt ein Kunststudent, „sobald es wieder zu verantworten ist. Generell bleiben wir so lange, bis die Schaukästen abgerissen werden. Wenn wir Pech haben, zusammen mit der Kunst darin.“