Es liegt immer ein Zauber über dem eigenen Heimatort. Wie Alice im Wunderland fühlt man sich auf einmal seltsam riesig, alles wirkt so klein. Ab und an ist aber auch das Gegenteil der Fall…
Heimatorte sind eine komplexe Angelegenheit. Dass man selbst dort herkommt, spricht für sie. Oft gibt es ein paar weitere Pluspunkte: Eltern, Freunde, frische Luft. Trotz alldem sind Heimatorte gruselig. Sie haben unerklärbare physikalische Eigenschaften. Zum Beispiel werden sie kleiner, wenn man längere Zeit nicht mehr da war. Das hat sogar System: Heimatorte schrumpfen umso mehr, je größer die Stadt ist, in der man jetzt wohnt. Und ganz besonders winzig werden sie, wenn man gewachsen ist, seit man sie hinter sich gelassen hat.
Wunderlicherweise schrumpfen viele Einwohner des Heimatortes nicht mit. Manchmal wachsen sie sogar. Infolgedessen – dazu braucht man nicht mal Physikunterricht – werden Heimatorte automatisch enger. Besonders die kleinen Dörfer sind plötzlich so dicht bevölkert, dass man sich kaum mehr auf der Straße drängeln kann. Die sind gefüllt mit entfernten Bekannten der eigenen Eltern und jungen Menschen, die groteske Vergrößerungen der Kindern sind, mit denen man sich in der Grundschule gekloppt hat. Die entfernten Bekannten deiner Eltern können die physikalischen Gesetzmäßigkeiten sehr schnell drehen. Während man ihnen brav Fragen über die eigenen Zukunftspläne beantwortet, schrumpft man mit jeder Sekunde ein Stückchen weiter. Die wundersam vergrößerten Kinder können denselben Effekt erzielen – nur nicht so unmittelbar.
Als ich die Wohnung betrete, fühle ich mich riesig. Alles ist, wie es damals war: das Telefontischchen im Flur, die Eckbank in der Küche. Nur ich bin fünfzig Zentimeter größer als in den Erinnerungen an die Wohnung meiner Kindheitsfreundin. Helena ist längst ausgezogen. Aber sogar sie hat sich über die Jahre wenig verändert. Wir sitzen mit ihrer Mutter auf der Eckbank, die früher viel größer war und geben Auskunft über den Stand unseres Lebens. Es ist eine Zeitreise mit Himbeertorte. Und weil wir damit so schnell durch sind, kommen wir bald darauf zu sprechen, was aus den Kindern, die wir einmal kannten, geworden ist.
Das ist der Punkt, wo das unerklärbare physikalische Phänomen wieder zuschlägt: Ich schrumpfe. Schuld ist das kleine Mädchen mit dem Barbie-Traumhaus, das plötzlich nach Beendigung seiner Drogenkarriere geheiratet und ein Kind bekommen hat. Schuld ist auch das Spießer-Traumhaus, das sich eine Altersgenossin mit ihrem Freund gebaut hat. Diese hochgeschossenen Kinder haben Nachwuchs und Immobilien, wo ich noch nicht mal ein Bügeleisen besitze! Die Eckbank kommt mir gar nicht mehr klein vor. Und ich glaube, meine Schuhe sind mir soeben zu groß geworden. Heimatorte sind schon gruselig. Susanne Krause
Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.
Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.