Foto: privat

Wie ich der Mensch wurde, der ich nie sein wollte: Heute mit Moritz

Hatte Moritz früher ein Buch einmal angefangen, legte er es normalerweise erst zur Seite, wenn er es von vorne bis hinten durchgelesen hatte. Das ist heute anders.

Neben meinem Bett steht ein riesiger Bücherstapel. Er umfasst mittlerweile knapp zwanzig Bücher, schwankt bei offenem Fenster gefährlich und wird von Jahr zu Jahr größer. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie es dazu kommen konnte. Hätte mir vor ein paar Jahren jemand gesagt, dass sich in meinem Zimmer einmal ungelesene Bücher stapeln würden, hätte ich das für sehr unrealistisch gehalten. Denn die meiste Zeit meines Lebens habe ich mir so gut wie jedes Buch, das irgendwie in meine Nähe kam, sofort einverleibt – und das ist durchaus der richtige Ausdruck, denn ich war nie ein „Genuss-Leser“. Ich war nie jemand, der sich seine Lektüre in kleine Häppchen, Abend für Abend aufgeteilt hat. Wenn ich ein Buch einmal in die Finger bekommen hatte, dann wurde das in einem Zug durchgelesen, und nach nur ein paar Stunden war ich auf der letzten Seite angekommen und wieder aus der fiktiven in die reale Welt zurückgekehrt. Das führte unter anderem dazu, dass die Stadtbibliothek um die Ecke zu meinem persönlichen Paradies wurde. Alle paar Wochen deckte ich mich dort mit neuer Lektüre ein, nach relativ kurzer Zeit auch aus Regalen deutlich über meiner Altersklasse, da ich sonst schon alles Interessante gelesen hatte. Wie andere Menschen gefühlte Ewigkeiten für ein Buch oder einen Text brauchen konnten, war für mich schlicht unverständlich. Ein Lesezeichen in einem Buch war ein Zeichen von Schwäche, jedes noch nicht gelesene Buch eine Versuchung.

Wie konnte es mir da passieren, dass sich in meinem Zimmer dieser Turm an ungelesenen Büchern angesammelt hat? Der Stapel war nicht auf einmal da, ich habe mir nicht auf einen Schlag Unmengen an Büchern gekauft und komme jetzt mit dem Lesen nicht mehr hinterher. Es war eher ein schleichender Prozess, der ganz unschuldig mit einem länger liegengebliebenen Buch begonnen hat und nun solche Ausmaße angenommen hat. Aber wie konnte es so weit kommen? Was hat sich zwischen mir und den Büchern verändert? Liegt es an mir oder liegt es an ihnen? Vielleicht sind beide Seiten nicht ganz unschuldig. Ich selbst habe mit der Zeit andere Wege und Mittel gefunden, für eine Weile das Hier und Jetzt zu vergessen – Netflix und insbesondere meiner viel zu großen Sammlung an Computerspielen sei Dank. Aber auch meine Bücher sind anders geworden. So befinden sich in meinem Bücherstapel zum Beispiel mittlerweile sowohl die „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant, als auch die „Dialektik der Aufklärung“ und Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“. Meine Bücher erzählen mir mittlerweile kaum mehr Geschichten, sondern lassen mich vor allem die Gedankengänge real existierender Menschen nachvollziehen. Das kann teilweise genau so spannend sein, ist aber meistens auch deutlich mehr Arbeit als Vergnügen und ohne Pausen kaum zu schaffen. Es sieht also so aus, als wäre der Bücherstapel neben meinem Bett gekommen, um zu bleiben. Außer ich gewöhne es mir doch noch an, nicht in jeden Bücherladen, den ich sehe, hinein zu laufen und eine Stunde später mit deutlich weniger Geld in der Tasche wieder heraus zu kommen. Aber das halte ich jetzt wirklich für komplett unrealistisch.