Verirrt im Heimatkaff

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Was passiert, wenn man sich in seinem eigenen Heimatkaff verirrt? An dem Baggersee, an dem man viele, viele Sommer vertrödelt hat, den man besser kennen müsste als seine Westentasche? Man erkennt zum ersten Mal, wie schön er eigentlich ist.

Ich komme zwischen den Brombeerranken hervorgekrochen und schüttle den Kopf: Da lang geht es auch nicht. An Leonies Wildlederschuhen klebt der Ackermatsch, und am nebelverhangenen Himmel geht bereits der Mond auf, als wir uns ansehen und feststellen: Wir haben uns verirrt. Dann müssen wir lachen.

Sich zu verirren, ist eine beängstigende Sache. Auch in unserem Fall: Wir haben ernsthaft Angst um unsere geistige Verfassung. Zusammen haben wir uns bereits souverän durch die Straßen von Wien und Berlin navigiert, ohne jemals die Orientierung zu verlieren. Und heute Abend? Da haben wir uns in unserem Heimatkaff verirrt – und zwar bei dem Versuch, eine Runde um den Dorfweiher zu drehen. Unser Vorhaben scheitert jedoch daran, dass wir erst am Ufer keinen Weg mehr finden und dann, als wir einen Weg aufgespürt haben, plötzlich das Ufer unauffindbar ist. Es müsste irgendwo hinter diesen Brombeerranken sein, aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

Es ist absurd: Eigentlich sollten wir gerade diesen Baggersee besser kennen als jeden anderen Ort auf der Welt; schließlich haben wir hier unzählige Stunden mit Schwimmen, Sonnen, Grillen und Eislaufen verbracht, weil es viel mehr nicht zu tun gab in unserer Jugend auf dem Land. Bis zum heutigen Abend hatte ich das Gefühl, dass sie noch gar nicht so lange her ist, diese etwas zu öde Provinzjugend mit ihrem Bier an Lagerfeuern und Warten an Bushaltestellen. Das war, bevor wir uns in dem Ort verlaufen haben, in dem wir aufgewachsen sind. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Als es fast finster ist, geben wir unsere Weiherumrundung auf und stapfen durch den Matsch denselben Weg zurück, den wir gekommen sind. Die ersten Sterne erscheinen am Himmel. Alles ist still. Und plötzlich passiert etwas, das mir klar macht, dass unsere Provinzjugend doch ein gutes Stück hinter uns liegt. Beim Anblick des Nebels über dem Amperkanal gibt Leonie widerwillig etwas zu, was wir damals niemals ausgesprochen hätten: Eigentlich ist unser Heimatdorf doch ganz schön.

Von Susanne Krause